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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Vorhalle hinunter, wo ein Diener und das Zimmermädchen Blumen in die Kristallvasen stellten.
    In den vergangenen Stunden hatte das Schloss zu leben begonnen wie eine aufgezogene Apparatur. Nicht nur die Möbel, die von ihren Leinenhüllen befreiten Sessel und Sofas lebten auf, sondern auch die Bilder an den Wänden, die großen schmiedeeisernen Kerzenhalter, die Ziergegenstände in den Vitrinen und auf dem Kaminsims. Im Kamin waren Holzscheite für ein Feuer vorbereitet, denn am Ende des Sommers überzog der kühle Dunst der Stunden nach Mitternacht die Zimmer mit einem feuchten, klebrigen Belag. Auf einmal schienen die Gegenstände einen Sinn zu haben, schienen beweisen zu wollen, dass alles auf der Welt nur dann einen Sinn hat, wenn es die Menschen angeht, wenn es am menschlichen Tun und am menschlichen Schicksal teilnimmt. Der General betrachtete die große Vorhalle, die Blumen auf dem Tisch, den man vor den Kamin gestellt hatte, die Anordnung der Lehnstühle.
    »Der Lederstuhl da«, sagte er, »hat rechts gestanden.«
    »Weißt du das noch so gut?«, fragte die Amme blinzelnd.
    »Ja«, sagte er. »Da hat Konrád gesessen, unter der Uhr, beim Feuer. In der Mitte, dem Kamin gegenüber, saß ich im Florentiner Stuhl. Mir gegenüber Krisztina im Lehnstuhl, den einst meine Mutter mitgebracht hatte.«
    »Wie genau du das weißt«, sagte die Amme.
    »Ja.« Der General lehnte sich ans Treppengeländer, in die Tiefe blickend. »In der blauen Kristallvase standen Dahlien. Vor einundvierzig Jahren.«
    »Du erinnerst dich, das kann man wohl sagen.« Die Amme seufzte.
    »Ich erinnere mich«, sagte er ruhig. »Ist der Tisch mit dem französischen Porzellan gedeckt?«
    »Ja, mit dem geblümten«, sagte Nini.
    »Gut.« Er nickte beruhigt. Jetzt betrachteten sie eine Zeitlang wortlos das sich ihnen bietende Bild, das große Empfangszimmer da unten, die mächtigen Möbel, die eine Erinnerung aufbewahrten, die Bedeutung einer Stunde, eines Augenblicks, als hätten diese toten Gegenstände bis zu jenem Augenblick nur nach den Gesetzen von Holz, Metall und Gewebe existiert, um dann, vor einundvierzig Jahren, an einem einzigen Abend mit lebendigem Sinn erfüllt zu werden und eine neue Bedeutung zu erhalten. Und jetzt, da sie wie aufgezogene Apparate wieder zum Leben kamen, erinnerten sich die Gegenstände daran.
    »Was servierst du dem Gast?«
    »Forelle«, sagte Nini. »Suppe und Forelle. Steaks und Salat. Perlhuhn. Und flambiertes Eis. Der Koch hat das schon zehn Jahre nicht mehr gemacht. Aber vielleicht wird es gut«, sagte sie besorgt.
    »Sorge dafür, dass es gut wird. Damals gab es auch Krebse«, sagte er leise und schien in die Tiefe hinunterzusprechen.
    »Ja«, sagte die Amme ruhig. »Krisztina mochte Krebse. In jeder Zubereitung. Damals gab es noch Krebse im Bach. Jetzt nicht mehr. Abends kann ich aus der Stadt keine holen lassen.«
    »Gib acht auf die Weine«, sagte der General in verschwörerischem Ton. Die Amme trat unwillkürlich näher und senkte den Kopf, um besser zu hören, so vertraulich, wie es nur alte Angestellte und Familienmitglieder tun. »Lass vom sechsundachtziger Pommard heraufholen. Und vom Chablis, zum Fisch. Und eine Flasche vom alten Mumm, eine Magnum. Erinnerst du dich?«
    »Ja.« Die Amme dachte nach. »Davon haben wir nur noch die trockene Sorte. Krisztina trank den halbtrockenen.«
    »Einen Schluck. Immer nur einen Schluck zum Braten. Sie mochte den Champagner nicht.«
    »Was willst du von diesem Menschen?«, fragte die Amme.
    »Die Wahrheit«, sagte der General.
    »Du kennst sie genau.«
    »Ich kenne sie nicht«, sagte er laut und unbekümmert darum, dass der Diener und das Zimmermädchen das Ordnen der Blumen unterbrachen und heraufblickten. Dann aber schlugen sie die Augen gleich wieder nieder und arbeiteten mechanisch weiter. »Gerade die Wahrheit kenne ich nicht.«
    »Aber die Wirklichkeit kennst du«, sagte die Amme scharf.
    »Die Wirklichkeit ist nicht die Wahrheit«, erwiderte der General. »Die Wirklichkeit ist nur ein Teil. Auch Krisztina kannte die Wahrheit nicht. Vielleicht hat Konrád sie gekannt. Und jetzt nehme ich sie ihm weg«, sagte er ruhig.
    »Was nimmst du ihm weg?«, fragte die Amme.
    »Die Wahrheit«, sagte er kurz. Verstummte dann.
    Als der Diener und das Zimmermädchen die Halle verlassen hatten und sie oben allein geblieben waren, stützte auch die Amme ihre Unterarme auf das Geländer, als stünden sie auf einem Berg und betrachteten die Aussicht. Sie sprach es ins Zimmer

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