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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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blauen Band versehen und zusätzlich mit einem Siegel verschlossen; der General hielt es lange in der Hand. Dann untersuchte er die Waffe, eingehend und mit Sachkenntnis. Es war ein alter Revolver mit sechs Kugeln. Alle sechs Kugeln an ihrem Platz. Mit einer beiläufigen Bewegung warf er die Waffe in die Schublade zurück und zuckte mit den Schultern. Das in gelben Samt gebundene Buch ließ er in die tiefe Seitentasche seiner Jacke gleiten.
    Er trat ans Fenster und öffnete die Läden. Während er geschlafen hatte, war ein Platzregen gefallen. Zwischen den Bäumen ging ein kühler Wind, die feuchten Platanenblätter glänzten fettig. Es dämmerte schon. Er stand reglos am Fenster, die Arme auf der Brust verschränkt. Er betrachtete die Landschaft, das Tal, den Wald, den gelben Weg weit unten, die Silhouette der Stadt. Seine an große Entfernungen gewöhnten Augen erkannten auf dem Weg den gleichmäßig daherrollenden Wagen. Der Gast war schon zum Schloss unterwegs.
    Er folgte dem sich rasch bewegenden Zielpunkt mit ausdruckslosem Gesicht, reglos, und er kniff ein Auge zu wie ein Jäger, der angelegt hat.

9

    Es war schon sieben Uhr vorbei, als der General aus seinem Zimmer trat. Gestützt auf seinen Spazierstock mit Elfenbeinknauf, ging er mit langsamen, gleichmäßigen Schritten den langen Gang entlang, der diesen Flügel des Schlosses, die Wohnräume, mit den großen Sälen, mit dem Empfangssaal, dem Musikzimmer und den Salons verband. An den Wänden des Gangs hingen goldgerahmte alte Porträts: von Ahnen, von Urgroßvätern und -müttern, von Bekannten, von früheren Angestellten, von Regimentskameraden und berühmten Gästen des Schlosses. Es war eine Tradition in der Familie des Generals, auch einen Hausmaler zu beschäftigen: vorbeikommende Wanderporträtisten, aber auch bekanntere Maler wie etwa S. aus Prag, der zur Zeit des Großvaters des Generals acht Jahre hier verbracht und jeden gemalt hatte, der ihm vor den Pinsel geriet, den Majordomus ebenso wie die erfolgreichen Pferde. Die Urgroßväter und -mütter waren dem Pinsel vagabundierender Gelegenheitskünstler zum Opfer gefallen: Glasigen Blickes schauten sie in ihren Prunkgewändern von der Wand herab. Dann folgten ein paar ruhige, ernste Männergesichter, Zeitgenossen des Gardeoffiziers, mit Ungarnschnurrbart und geringelter Stirnlocke, im schwarzen Feiertagsgewand oder in Paradeuniform. Das war eine gute Generation, dachte der General, während er die Porträts der Verwandten, Freunde und Dienstkameraden seines Vaters betrachtete. Eine gute Generation, ein bisschen eigenbrötlerisch, ungeeignet für den Umgang mit den Menschen, hochmütig, dafür aber im festen Glauben: an die Ehre, die Männertugenden, das Schweigen, das Alleinsein, das gegebene Wort, und auch an die Frauen. Und wenn sie enttäuscht wurden, verstummten sie. Die meisten schwiegen ein Leben lang, der Pflicht und dem Schweigen wie einem Gelübde ergeben. Am Ende des Gangs kamen die französischen Porträts, französische Damen mit gepuderter Haartracht, dicke, perückentragende fremde Herren mit genießerischen Lippen, die entferntere Verwandtschaft seiner Mutter, aus blauem, rosarotem, taubengrauem Hintergrund hervordämmernde menschliche Gesichter. Fremde. Dann das Bild seines Vaters in der Uniform des Gardeoffiziers. Und eines der Porträts seiner Mutter, mit einem federnbesteckten Hut, in der Hand die Peitsche wie eine Zirkusreiterin. Dann eine quadratmetergroße leere Fläche: von feinen grauen Linien eingerahmt, was bedeutete, dass auch da ein Bild gehangen hatte. Der General ging mit reglosem Gesicht an dem leeren Viereck vorüber. Jetzt kamen schon die Landschaftsbilder.
    Am Ende des Gangs stand die Amme im schwarzen Kleid, eine frischgestärkte weiße Haube auf dem Kopf.
    »Was schaust du an? Die Bilder?« fragte sie.
    »Ja.«
    »Willst du nicht, dass wir das Bild zurückhängen?«, fragte sie und zeigte unbeirrt, mit der Unverblümtheit alter Leute, auf die Wand. Auf die leere Stelle.
    »Ist es noch vorhanden?«, fragte der General.
    Die Amme nickte.
    »Nein«, sagte er nach einer kurzen Pause. Dann, leiser: »Ich habe nicht gewusst, dass du es aufbewahrt hast. Ich dachte, du hättest es verbrannt.«
    »Es hat überhaupt keinen Sinn«, sagte die Amme mit dünner, hoher Stimme, »Bilder zu verbrennen.«
    »Nein«, sagte der General vertrauensvoll, wie man nur zu seiner Amme sprechen kann. »Darauf kommt es nicht an.«
    Sie bogen zur großen Treppe ab und blickten in die

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