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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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    »Das«, sagt der General ruhig und höflich, aber auch sehr bestimmt, »haben beim Regiment einige auch gedacht. Doch dann bist du nicht gekommen. Wahrscheinlich hattest du anderes zu tun«, sagt er ermutigend.
    »Ich war englischer Staatsbürger«, sagt Konrád verlegen. »Man kann seine Heimat nicht alle Jahrzehnte wechseln.«
    »Nein«, sagt der General zustimmend. »Ich glaube, man kann seine Heimat überhaupt nicht wechseln. Höchstens seine Papiere. Meinst du nicht auch?«
    »Meine Heimat«, sagt der Gast, »hat aufgehört zu existieren. Meine Heimat war Polen und Wien, dieses Haus und die Kaserne in der Stadt, Galizien und Chopin. Was ist von alledem geblieben? Das geheimnisvolle Bindemittel, welches das Ganze zusammenhielt, wirkt nicht mehr. Alles ist in seine Bestandteile zerfallen. Meine Heimat war ein Gefühl. Dieses Gefühl ist verletzt worden. Da muß man weggehen. In die Tropen oder noch weiter.«
    »Wohin noch weiter?«, fragt der General kalt.
    »In die Zeit.«
    »Das ist ein Wein«, sagt der General und hebt sein Glas mit dem tiefroten Getränk, »an dessen Jahrgang du dich vielleicht noch erinnerst. Sechsundachtziger Lese, das Jahr unseres Soldateneids. Zum Gedenken an den Tag hat mein Vater in einem Teil des Kellers diesen Wein gelagert. Das ist viele Jahre her, fast ein ganzes Leben. Es ist ein alter Tropfen.«
    »Das, worauf wir geschworen haben, gibt es nicht mehr«, sagt der Gast sehr ernst und hebt seinerseits das Glas. »Alle sind gestorben, sind weggegangen, haben aufgegeben, worauf wir geschworen haben. Es gab eine Welt, für die zu leben und zu sterben es sich lohnte. Diese Welt ist tot. Die neue geht mich nichts an. Das ist alles, was ich sagen kann.«
    »Für mich lebt diese Welt noch, auch wenn sie in Wirklichkeit nicht mehr existiert. Sie lebt, weil ich auf sie geschworen habe. Das ist alles, was ich sagen kann.«
    »Ja, du bist Soldat geblieben«, erwidert der Gast.
    Jeder an seinem Tischende, heben sie schweigend das Glas und leeren es.

12

    »Nachdem du weggegangen bist«, sagt der General freundlich, als hätten sie das Wesentliche, das Spannungsgeladene schon besprochen und plauderten jetzt, »haben wir lange geglaubt, du würdest zurückkommen. Alle hier haben auf dich gewartet. Alle waren deine Freunde. Du warst, mit Verlaub, ein bisschen ein Sonderling. Wir haben dir das verziehen, weil wir wussten, dass für dich die Musik wichtiger ist. Wir haben nicht verstanden, warum du weggegangen bist, aber wir haben uns damit abgefunden, weil du wohl einen wichtigen Grund dafür hattest. Wir wussten, dass für dich alles schwerer war als für uns, die wirklichen Soldaten. Was für dich ein Zustand war, war für uns eine Berufung. Was für dich eine Verkleidung war, war für uns ein Schicksal. Wir staunten nicht, als du diese Verkleidung abgeworfen hast. Aber wir dachten, du würdest eines Tages zurückkommen. Oder schreiben. Das haben einige von uns gedacht, so auch ich, muß ich gestehen. Und auch Krisztina. Und mehrere vom Regiment, falls du dich erinnerst.«
    »Ich erinnere mich nur noch vage«, sagt der Gast gleichgültig.
    »Ja, du hast wohl viel erlebt. In der Welt draußen. Da vergisst man rasch.«
    »Nein«, sagt der andere. »Die Welt ist nichts. Das Wichtige vergisst man nie. Das habe ich erst später gemerkt, als ich schon um einiges älter war. Das Nebensächliche gibt es nicht, das wirft man weg wie die Träume. Ans Regiment erinnere ich mich nicht«, sagt er störrisch. »Seit einiger Zeit erinnere ich mich nur noch an das Wesentliche.«
    »Zum Beispiel an Wien und an dieses Haus, willst du das sagen? ...«
    »An Wien und an dieses Haus«, wiederholt der Gast mechanisch. Er starrt vor sich hin, mit halb zugekniffenen Augen blinzelnd. »Die Erinnerung trennt auf wundersame Art die Spreu vom Weizen. Von großen Ereignissen stellt sich nach zehn, zwanzig Jahren heraus, dass sie in einem drin nichts bewirkt haben. Und dann erinnert man sich eines Tages an eine Jagd oder an eine Stelle in einem Buch oder an dieses Zimmer. Als wir das letzte Mal hier gegessen haben, waren wir zu dritt. Krisztina lebte noch. Sie saß da, in der Mitte. Auch damals stand diese Dekoration auf dem Tisch.«
    »Ja«, sagt der General. »Vor dir stand der Osten, vor Krisztina der Süden. Und vor mir der Westen.«
    »Du erinnerst dich sogar an die Einzelheiten?«, fragt der Gast erstaunt.
    »Ich erinnere mich an alles.«
    »Ja, die Einzelheiten sind manchmal sehr wichtig. Sie halten

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