Die Glut
hinzu.
»Hier hat er gesessen«, sagt der General beiläufig und zeigt mit dem Blick den Platz des Königs an der Tischmitte. »Rechts von ihm saß meine Mutter, links von ihm der Pfarrer. Hier, in diesem Zimmer hat er gesessen, am Ehrenplatz. Geschlafen hat er oben, im gelben Zimmer. Und nach dem Essen hat er mit meiner Mutter getanzt«, sagt er leise und greisenhaft, fast schon kindlich in seinem Erinnern. »Siehst du, darüber kann man mit niemandem mehr sprechen. Auch deshalb ist es gut, dass du noch einmal zurückgekommen bist«, sagt er ganz ernst. »Du hast mit meiner Mutter die Polonaise-Fantaisie gespielt. Hast du sie später, in den Tropen, nicht mehr gespielt?« fragt er noch einmal, als wäre ihm das Wichtigste wieder eingefallen.
Der Gast denkt nach: »Nein«, sagt er. »Chopin habe ich in den Tropen nie gespielt. Weißt du, diese Musik berührt in mir sehr vieles. In den Tropen ist man empfindlicher.«
Jetzt, da sie gegessen und getrunken haben, ist das Unbehagliche, Feierliche der ersten halben Stunde verflogen. Das Blut in ihren verkalkten Arterien fließt wärmer, die Adern an Schläfen und Stirn treten hervor. Die Diener bringen Früchte aus dem Gewächshaus. Sie essen Trauben und Mispeln. Im Saal ist es warm geworden, die Lüfte des Sommerabends bewegen die grauen Vorhänge an den halboffenen Fenstern.
»Den Kaffee«, sagt der General, »könnten wir drüben trinken.«
In diesem Augenblick reißt ein Windstoß die Fenster auf, die Vorhänge beginnen zu flattern, auch der schwere Kristallüster gerät in Bewegung wie auf einem Schiff im Sturm. Der Himmel wird für einen Augenblick hell, ein schwefelgelber Blitz durchschneidet die Nacht wie ein goldener Dolch den Körper des Opfers. Schon schlägt der Sturm im Zimmer um sich, schon hat er einige der erschreckt flackernden Kerzen gelöscht; dann wird es plötzlich ganz dunkel. Der Majordomus eilt zum Fenster und schließt mit der Hilfe zweier Diener, im Dunkeln herumtastend, die Fensterflügel. Da sehen sie, dass auch die Stadt dunkel ist.
Der Blitz hat das städtische Elektrizitätswerk getroffen. Sie sitzen schweigend im Dunkeln, Licht kommt nur vom Feuer im Kamin und von zwei Kerzen, die noch brennen. Dann bringen die Lakaien andere Leuchter.
»Drüben«, wiederholt der General, von Blitzschlag und Dunkelheit offenbar ungerührt.
Ein Lakai weist ihnen mit hoch erhobenem Leuchter den Weg. Stumm und ein wenig schwankend wie Schatten an der Wand gehen sie in diesem gespenstischen Schein vom Esszimmer durch kalte Salons in ein Zimmer, dessen Mobiliar einzig aus dem geöffneten Flügel und drei Sesseln besteht, die einen bauchigen, warmen Porzellanofen umgeben. Hierhin setzen sie sich und blicken durch die bodenlangen weißen Vorhänge auf die dunkle Landschaft. Der Lakai stellt den Kaffee auf ein Tischchen, dazu Zigarren und Schnaps; auf das Ofensims stellt er einen silbernen Leuchter mit dicken Kirchenkerzen. Sie zünden sich beide eine Zigarre an. Und schweigen und lassen sich wärmen. Aus dem Ofen strömt gleichmäßig die Wärme der Holzscheite, das Kerzenlicht tanzt über ihren Köpfen. Die Tür ist jetzt geschlossen. Sie sind allein.
13
»Wir leben nicht mehr lange«, sagt der General unvermittelt, als spräche er die Schlussfolgerung eines stummen Streitgesprächs aus. »Ein, zwei Jahre noch, vielleicht nicht einmal soviel. Wir leben nicht mehr lange, denn du bist zurückgekommen. Das weißt auch du genau. Du hattest in den Tropen Zeit, darüber nachzudenken, und später dann in deinem Haus bei London. Einundvierzig Jahre sind eine lange Zeit. Du hast es dir gut überlegt, nicht wahr? ... Aber dann bist du zurückgekommen, weil du nicht anders konntest. Und ich habe auf dich gewartet, weil ich nicht anders konnte. Und beide haben wir gewusst, dass wir uns noch einmal treffen werden - und dass dann Schluss ist. Mit dem Leben und mit allem, was unserem Dasein Inhalt und Spannung verliehen hat. Denn in einem Geheimnis, wie es zwischen dir und mir lauert, ist eine besondere Kraft. Es verbrennt das Gewebe des Lebens wie eine schädliche Strahlung, gleichzeitig gibt es ihm aber auch Spannkraft und Temperatur. Es zwingt einen zu leben ... Solange man auf Erden noch zu tun hat, lebt man. Ich will dir sagen, was ich in den vergangenen einundvierzig Jahren im Wald, allein, erlebt habe, während du in den Tropen und in der Welt draußen warst. Auch die Einsamkeit ist recht seltsam ... zuweilen voller Gefahren und Überraschungen wie ein Urwald.
Weitere Kostenlose Bücher