Die Glut
Das muß für dich, der die Tropen und die Leidenschaft kennengelernt hat, ein großes Erlebnis gewesen sein. Ist es schon lange her, seit du zuletzt in Wien warst?«
Er fragt es höflich, in seiner Stimme nicht der geringste Beiklang von Spott. Der Gast blickt vom anderen Tischende misstrauisch zu ihm. Ein bisschen verloren sitzen sie da, die beiden Alten in dem großen Saal, weit auseinander.
»Ja, schon lange«, antwortet Konrád. »Vor vierzig Jahren. Damals ...«, sagt er unsicher, unwillkürlich und verlegen stockend. »Damals, als ich auf dem Weg nach Singapur war.«
»Ich verstehe«, sagt der General. »Und was hast du jetzt in Wien vorgefunden?«
»Die Veränderung«, sagt Konrád. »In meinem Alter und in meiner Situation findet man überall nur noch die Veränderung. Nun gut, ich war vierzig Jahre nicht mehr auf dem europäischen Kontinent. Nur in den französischen Häfen habe ich ein paar Stunden verbracht, auf der Fahrt von Singapur nach London. Aber ich habe Wien noch einmal sehen wollen. Und dieses Haus.«
»Bist du deswegen aufgebrochen?«, fragt der General. »Weil du Wien und dieses Haus sehen wolltest? Oder hast du auf dem Kontinent geschäftlich zu tun?«
»Ich habe überhaupt nichts mehr zu tun«, antwortet Konrád. »Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt, wie du. Bald werde ich sterben. Deswegen bin ich aufgebrochen, deswegen bin ich hier.«
»Es heißt«, sagt der General in höflichem, ermutigendem Ton, »wenn man dieses Alter erreicht habe, lebe man, bis man es leid sei. Empfindest du es nicht auch so?«
»Ich bin es schon leid«, sagt der Gast.
Er sagt es gelassen ohne besondere Betonung.
»Wien«, sagt er. »Für mich war das die Stimmgabel für die Welt. Dieses Wort - Wien - aussprechen war wie eine Stimmgabel anschlagen und dann horchen, was der andere, mit dem ich gerade sprach, von diesem Ton vernahm. Damit prüfte ich die Menschen. Wer nicht antworten konnte, war nicht meine Art Mensch. Denn Wien war nicht nur eine Stadt, sondern auch ein Ton, den man entweder für immer in seiner Seele trägt oder eben nicht. Das war in meinem Leben das Schönste. Ich war arm, aber ich war nicht allein, denn ich hatte einen Freund. Und auch Wien war wie ein Freund. Ich vernahm seine Stimme immer, wenn es regnete, in den Tropen. Und auch sonst. Manchmal ist mir im Urwald der muffige Geruch des Torwegs im Hietzinger Haus eingefallen. Die Musik und alles, was ich liebte, steckte in Wien in den Steinen, im Blick und Benehmen der Menschen, so wie reine Gefühle in einem Herzen leben. Du weißt, wenn die Gefühle nicht mehr weh tun. Das winterliche Wien und das frühlingshafte. Die Alleen von Schönbrunn. Das blaue Licht im Schlafsaal der Anstalt, das große weiße Treppenhaus mit der Barockstatue. Die morgendlichen Ausritte in den Prater. Die Schimmel der Hofreitschule. An das alles erinnerte ich mich deutlich, und ich wollte es noch einmal sehen«, sagt er leise, fast verschämt.
»Und was hast du nach einundvierzig Jahren gefunden?«, fragt der General noch einmal.
»Eine Stadt«, sagt Konrád achselzuckend. »Die Veränderung.«
»Hier wenigstens«, sagt der General, »wirst du kaum enttäuscht werden. Bei uns hat sich nicht viel geändert.«
»Bist du in den letzten Jahren nicht gereist?«
»Wenig.« Der General blickt in die Kerzenflamme. »Nur so viel, wie es der Dienst verlangte. Eine Zeitlang dachte ich daran, den Dienst zu quittieren, so wie du. Und in die Welt hinauszufahren, mich umzusehen, etwas oder jemanden zu finden.«
Sie schauen einander nicht an: Der Gast starrt in sein Glas mit dem gelblichen Getränk, der General in die Kerzenflamme. »Dann bin ich eben doch hiergeblieben. Der Dienst, du weißt ja. Man versteift sich, wird verstockt. Ich habe meinem Vater versprochen, meine Zeit abzudienen. Deshalb bin ich geblieben. Allerdings habe ich mich früh pensionieren lassen, das schon. Als ich fünfzig war, wollte man mir eine Armee anvertrauen. Ich hatte das Gefühl, dafür sei ich zu jung. Da habe ich demissioniert. Man hatte Verständnis. Im übrigen«, er bedeutet dem Diener, den Rotwein einzuschenken, »war es sowieso eine Zeit, in der der Dienst keine Freude mehr machte. Die Revolution. Der Umsturz.«
»Ja«, sagt der Gast, »davon habe ich gehört.«
»Nur gehört? Wir haben es durchlebt«, sagt der General streng.
»Vielleicht nicht nur gehört«, sagt der andere jetzt. »Siebzehn, ja. Da bin ich zum zweiten Mal in die Tropen gefahren. Ich arbeitete in den Sümpfen, mit
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