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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Ich kenne alle ihre Spielarten. Die Langeweile, die man mit der genauen Lebensordnung vergeblich bekämpft. Dann die plötzlichen Ausbrüche. Auch die Einsamkeit ist geheimnisvoll wie der Dschungel«, wiederholt er hartnäckig. »Man lebt einer genauen Ordnung gemäß, und eines Tages wird man zum Amokläufer wie deine Malaien. Man hat ein Haus, Titel und einen Rang und eine peinlich genaue Lebensweise. Und eines Tages rennt man aus alledem hinaus, mit einer Waffe in der Hand, oder auch ohne … was fast gefährlicher ist. Man rennt in die Welt hinaus, einen starren Blick in den Augen; die Kumpane, die alten Freunde weichen einem aus. Man geht in eine Großstadt, kauft sich Frauen, um einen herum fliegt alles in die Luft, man sucht und findet Streit. Und, wie gesagt, das ist noch nicht das Schlimmste. Vielleicht wird man im Laufen niedergeschlagen wie ein räudiger, tollwütiger Hund. Vielleicht rennt man gegen eine Wand, gegen die Hindernisse des Lebens, und bricht sich sämtliche Knochen. Schlimmer ist es, wenn ein Mensch diese Aufwallung, die im Lauf einsamer Jahre in der Seele entsteht, in sich zurückdrängt. Und nirgendshin rennt. Niemanden umbringt. Was tut er dann? Er lebt, wartet, hält Ordnung. Lebt wie ein Mönch, nach einer heidnischen, weltlichen Ordnung ... Wobei es für den Mönch leicht ist, denn er hat seinen Glauben. Ein Mensch, der seine Seele und sein Schicksal der Einsamkeit verschrieben hat, vermag nicht zu glauben. Er kann nur warten. Auf den Tag oder die Stunde, da er alles, was ihn in die Einsamkeit gezwungen hat, noch einmal mit denen oder mit dem besprechen kann, der ihn in diesen Zustand versetzt hat. Auf diesen Augenblick bereitet er sich während zehn oder vierzig oder genauer einundvierzig Jahren vor wie auf ein Duell. Er bringt seine Angelegenheiten in Ordnung, für den Fall, dass er im Duell unterliegt. Und er übt täglich, so wie es die professionellen Haudegen tun. Womit übt er? Mit den Erinnerungen, damit, dass er der Einsamkeit und der Zeit nicht erlaubt, ihn zu benebeln, sein Herz und seine Seele aufzuweichen. Denn es gibt im Leben ein Duell, eins ohne Säbel, das die vollkommene Vorbereitung lohnt. Das ist das Gefährlichste. Eines Tages aber ist der Augenblick da. Wie denkst du darüber?« fragt er höflich.
    »Genauso«, sagt der Gast. Und blickt auf die Asche seiner Zigarre.
    »Ich freue mich, dass auch du so denkst«, sagt der General. »Diese Erwartung erhält einen am Leben. Auch sie hat natürlich ihre Grenzen, wie alles im Leben. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass du eines Tages zurückkommen wirst, hätte ich mich wahrscheinlich selbst auf den Weg gemacht, um dich zu suchen, in deinem Haus bei London oder in den Tropen oder im letzten Loch der Hölle. Denn ich hätte dich gesucht, das weißt du genau. Offenbar weiß man die wirklich entscheidenden Dinge. Du hast recht, man weiß sie, auch ohne Radio und Telefon. In meinem Haus gibt es kein Telefon, nur der Verwalter im Büro unten hat eins, und ein Radio habe ich auch nicht, denn ich habe verboten, dass man den dummen, schmutzigen Lärm der Welt in die Zimmer lässt, in denen ich wohne. Mir kann die Welt nichts mehr anhaben. Neue Weltordnungen mögen die Lebensform aufheben, in der ich geboren wurde und gelebt habe, aufrührerische, aggressive Kräfte mögen mir Freiheit und Leben nehmen. Es ist alles gleichgültig. Wichtig ist, dass ich mit der Welt, die ich erkannt und aus meinem Leben ausgeschlossen habe, nicht feilsche. Und doch habe ich ohne zeitgemäße Hilfsmittel gewusst, dass du eines Tages noch einmal zu mir kommen wirst. Ich habe es abgewartet, denn alles hat seine Zeit und seine Ordnung, die es abzuwarten gilt. Jetzt ist der Augenblick gekommen.«
    »Was willst du damit sagen?«, fragt Konrád. »Ich bin weggegangen, und dazu hatte ich ein Recht. Und vielleicht auch einen Grund. Ich bin ohne Vorankündigung weggegangen, ohne mich zu verabschieden, das stimmt. Gewiss hast du gespürt und verstanden, dass ich nicht anders konnte, dass es so richtig war.«
    »Daß du nicht anders konntest?«, fragt der General und schaut auf. Er betrachtet den Gast mit stechendem Blick wie einen Gegenstand. »Gerade darum geht es. Darüber grüble ich seit geraumer Weile. Seit einundvierzig Jahren, wenn ich mich nicht täusche.«
    Und da der andere schweigt: »Jetzt, im Alter, denke ich viel an die Kindheit. Das sei normal, sagt man. Gegen Ende erinnert man sich deutlicher an den Anfang. Ich sehe Gesichter und höre Stimmen.

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