Die Göring-Verschwörung
Fensterfront war ein vier Meter langes Kartenpult aus Marmor aufgestellt. Die Initialen AH über den hohen Doppeltüren kündeten vom Hausherrn und Begründer des Dritten Reiches. Ein riesiger Teppich, der den gesamten Fußboden bedeckte, wirkte als einziges Element der Kälte des Saales entgegen.
Andächtig den Worten ihres Führers lauschend, hatte sich eine Gruppe von knapp dreißig Männern im Halbkreis am Kartentisch versammelt: Generäle aller Waffengattungen, hohe Partei- und SS-Funktionäre, dazu eine Handvoll Rüstungsindustrielle in Zivil.
»Sechs lange Jahre rastloser Aufbauarbeit haben uns nunmehr in die Lage versetzt, das Tor zu einer neuen Zeit aufzustoßen. Ich habe daher den Befehl gegeben, innerhalb nicht zu langer Frist die Tschechoslowakei militärisch zu besetzen.« Hitler schwieg einen Augenblick, um seinen Worten Zeit zu geben, ihre Wirkung zu entfalten. »Niemand wird es wagen, sich uns in den Weg zu stellen«, setzte er gestikulierend nach. »Polen wird bald folgen. Schon allein diese Entfaltung unserer Macht wird den gesamten Balkan gefügig machen. Wir werden dann uneingeschränkt über deren enorme landwirtschaftliche Quellen und Petroleum-Schätze verfügen können. Dies alles soll innerhalb eines Jahres von heute an vollbracht sein. Deutschland wird dann ein für allemal mit seinem Erbfeind Frankreich abrechnen.« Wieder machte er kleine Pause, um dann lauthals in den Raum zu schreien: »Dieses Land wird von der Karte Europas verschwinden!« Er holte Atem und fuhr mit kalt entschlossenem Tonfall fort: »England ist ein altes Land, geschwächt durch Demokratie und Parlamentarismus. Es wird uns, sobald wir unsere Herrschaft über den Kontinent errichtet haben, wie eine reife Frucht in den Schoß fallen. Und auch mit den Dollar-Juden der Vereinigten Staaten werden wir eines Tages abrechnen. Heute können die Amerikaner unser Volk noch beleidigen, aber der Tag wird kommen, da wir jedes Wort, das sie gegen uns zu sprechen wagen, in ihren Rachen zurückstoßen werden.«
Hitler setzte sich erschöpft auf einen bereitstehenden Polsterstuhl. Niemals zuvor hatte er derart offen zu einem größeren Kreis gesprochen.
Alles verharrte einen Augenblick lang gebannt, als fülle der Widerhall von Hitlers Worten den Saal noch aus. Goebbels war der erste, der die Stille unterbrach: »Heil, mein Führer!«, schrie er, kurz den Arm zum Hitlergruß hochreißend, und begann stürmisch zu applaudieren. Die übrigen NS-Funktionäre stimmten ein und auch die Industriellen begannen heftig nickend in die Hände zu klatschen. Gemäß der preußisch-militärischen Etikette enthielten sich die Wehrmachtsoffiziere jeglicher Beifallsbekundungen. Die Äußerungen des Staatsoberhauptes und Oberbefehlshabers waren für sie Befehle, die sie nicht zu kommentieren hatten. Doch Generalstabschef Halder konnte in keinem der Gesichter seiner Kameraden eine Regung ausmachen, die die Vermutung zugelassen hätte, dass sein Entsetzen geteilt wurde.
Nachdem er ein paar Schweißtropfen, die an seiner Schläfe herunterliefen, mit einem weißen Taschentuch entfernt hatte, erhob sich Hitler wieder und begann die Reihe der Anwesenden abzuschreiten. In einer ausgedehnten Prozedur schüttelte er jedem Einzelnen mit festem Druck die Hand. Dabei schaute er seinem jeweiligen Gegenüber drei, vier lange Sekunden tief in die Augen – wie ein mystischer König, der seine Gralsritter zur Gefolgschaft verpflichtete. Alle waren sie angetreten, die Paladine des neuen Reiches: fanatische Nazis, raffgierige Wirtschaftsbarone und zu allem bereite Offiziere. Allein Göring fehlte.
11
Er rieb sich frierend die blanken Schultern, um seinen Körper etwas zu wärmen. Clarson kauerte nackt in kompletter Dunkelheit auf einem kleinen Holzschemel, dem einzigen Möbelstück einer winzigen, fensterlosen Einzelzelle. Seine Kleidung war ihm mitsamt der Unterwäsche abgenommen worden, als Beweismittel sichergestellt , wie man behauptet hatte. Irgendeinen Ersatz hatte man ihm nicht angeboten. Völlig entblößt hatte er mit einem Gefühl entwürdigender Ohnmacht inmitten des Polizeibüros gestanden. Nach der Abnahme der Fingerabdrücke hatte man ihn, die Kuppen noch blau von der Tinte, ins Untergeschoss geführt und in dieses feuchtkalte, nach Exkrementen stinkende Verließ gestoßen.
Für die Polizei war der Fall klar. Er war der Täter und brauchte keinerlei Rücksichten zu erwarten. Seine erste Begegnung mit dem nationalsozialistischen Justizsystem ließ
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