Die Göring-Verschwörung
einen Augenblick lang der Antwort, fragte ein paarmal nach, dann legte er den Hörer sichtbar zufrieden wieder auf. »Die Debatte beginnt um zehn Uhr dreißig. Es wird eine mehrstündige Aussprache erwartet. Das bedeutet, die Nachricht unserer Kriegserklärung an die Tschechoslowakei wird mitten in die Beratungen platzen. Eine prompte Reposte ist also garantiert. Die französische Regierung wird sich dem Druck der allgemeinen Empörung auf keinen Fall entziehen können.«
»Das ist gut«, sagte Halder, der das Gefühl nicht abschütteln konnte, als zögen sich sämtliche Organe in seinem Bauch zusammen. Er hatte es zuerst gespürt, als Göring begonnen hatte, ihn zum Handeln zu drängen, und es damit abgetan, dass das improvisierte Stückwerk, dass sie anstatt seines ursprünglichen, minutiös durchgeplanten Szenarios anpeilten, seiner sorgfältig abwägenden Natur zuwiderlief. Doch es gab noch einen anderen, wesentlicheren Grund für sein Unwohlsein. Ihm drohte die Führung des Unternehmens aus den Händen zu gleiten. Dabei hatte er den ausgebooteten Feldmarschall ursprünglich erst mit der Nase auf diesen Ausweg aus dessen aussichtsloser Lage stoßen müssen. Wohl war es stets die Göring zugedachte Rolle gewesen, am Bug des Schiffes das Zepter zu schwingen, doch im Hintergrund hatte er, Halder, das Ruder in der Hand behalten wollen. »Es ist entscheidend, dass wir in unserer Radiobotschaft auf die Kriegserklärung zumindest einer der Westmächte Bezug nehmen können.«
»Wir könnten uns kein besseres Szenario wünschen«, erklärte Göring bestimmt. »Unmittelbar nach dem Kriegseintritt Frankreichs gehen wir an die Öffentlichkeit und teilen der Welt mit, dass Offiziere der Akademie versucht haben, Hitler von seinem fatalen Kurs abzubringen. Dabei kam es zu einem Handgemenge mit Schusswechsel, in dessen Verlauf der Führer unglücklicherweise getötet wurde. Aufgrund von Reichsgesetz und Geheimerlass aus dem Jahre 1934 ist mir automatisch seine Nachfolge zugefallen.«
»Ich habe mich mit den Männern unseres Kreises darauf verständigt, dass Hitler nach seiner Verhaftung vor ein Militärgericht gestellt wird.«
»Sind Sie wahnsinnig?«, fuhr Göring sein Gegenüber mit quickender Stimme an. »Das neue Regime wird nicht bestehen können, solange Hitler noch am Leben ist!«
Halder hatte die ursprüngliche Vereinbarung, wonach Hitler zu töten war, übergangen, um von Witzleben und Nausitz für die Verschwörung zu gewinnen. Natürlich war es unehrenvoll, Hitler wie einen kranken Hund abzuknallen, doch Göring hatte gute Gründe für seinen Einwand. Nur der Tod des Diktators würde Partei und Wehrmacht von ihrer Treuepflicht entbinden.
»Ich stehe bei den Herren Nausitz und von Witzleben im Wort«, schüttelte Halder den Kopf. »Außerdem würde eine Tötung Hitlers ohne gerichtliche Verurteilung als Mord angesehen werden und auf entsprechende Ablehnung in allen sozialen Schichten stoßen.«
»Nein, nein, nein!«, echauffierte sich Göring. Er griff sich nach Luft schnappend an den Kragen, dann warf er sich in die Brust und fuhr in ruhigerem Ton fort. »Ich fürchte, wir können auf die verständlichen Bedenken der genannten Herren keine Rücksicht nehmen. Beide werden ja auch gar nicht in diesen Teil der Aktion eingebunden sein.«
Halder schwieg, doch innerlich stimmte er zu.
Sich mit dem ganzen Gewicht seines massigen Körpers auf dem Schreibtisch abstützend, blickte der Feldmarschall hinauf zum Bildnis Hitlers hinter ihm. »Das ist das Schwerste von allem. Ich bin dem Führer bis ins Innerste verpflichtet.«
»Wir alle haben den gleichen Treueid geschworen«, entgegnete Halder.
»Ja, natürlich. Doch für mich ist es schwerer. Ich war ihm seit den frühen Jahren der Kampfzeit auch persönlich eng verbunden.«
»Die Pflicht gegenüber Deutschland wiegt schwerer.«
Göring wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu. »Sie haben recht, wir müssen jetzt ganz rücksichtslos auch gegen uns selbst sein. Es geht um das Schicksal des Reiches, ja Europas für die nächsten hundert Jahre. Persönliche Empfindungen und Loyalitäten haben zurückzustehen.«
Anfangs hatte sich Halder gewundert, warum Göring die Festnahme Hitlers gänzlich ihm und den Offizieren der Akademie überlassen wollte. Allmählich war ihm jedoch klar geworden, dass Göring der direkten Konfrontation mit seinem Führer aus dem Wege ging. Er wollte ihn bloß weg haben, vom Erdboden verschwunden, ohne selbst beteiligt zu sein. Seine
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