Die Götter - Das Schicksal von Ji: Die Götter 4 - Roman (German Edition)
bisschen Verstand verloren, das er noch besessen hatte. Er ertrug den Gedanken nicht, abermals in der Unterwelt gefangen zu sein. Der Schock war einfach zu groß.
Souanne hatte selbst ein ganz seltsames Gefühl. Auch wenn sie dagegen ankämpfte und es nicht wahrhaben wollte, spürte sie etwas Großes und Überwältigendes in sich aufsteigen. Wenn sie nicht aufpasste, würde es ihren Verstand zermalmen und ihn in tausend Stücke zerspringen lassen– genau wie den des Hexers. Eine Flut aus Bildern stürmte auf sie ein, Dinge, die sie lange vergessen hatte, Wahrheiten, die sie nie wieder würde leugnen können.
Ja: Sie hatte schon einmal in diesem Tal gelebt– oder vielmehr in dem ursprünglichen Tal. Die neuen Gärten standen den alten in nichts nach. Die dreizehn Erben auf dem Kutter hatten das Dara aus dem Gedächtnis erschaffen, und ihre Erinnerungen waren sehr lebendig gewesen. Und ja: Sie war eine der ersten Göttinnen gewesen, die die Gärten verlassen und ihren Platz in der Welt der Sterblichen eingenommen hatte. Ja: Sie war Eurydis gewesen, und sie war es noch immer. Nicht ohne Grund zerriss ihr die Verwüstung des Tals das Herz.
Ihre Gedanken wanderten zu Guederic, der sich ganz in der Nähe hinter einen Felsen kauerte. Er hielt die Arme schützend über den Kopf und hatte fast dieselbe Körperhaltung eingenommen wie das Kind in Sombres Sarg. Der junge Mann teilte ihr Schicksal, er war ihr geistiger Bruder. Souanne konnte nur ahnen, was er in diesem Moment durchmachte. Sie selbst hatte ebenfalls schreckliche Angst, und dabei zeigten die Bilder, die in ihr aufstiegen, vor allem glückliche Momente. Guederic– oder besser gesagt Sombre– wurde hingegen von Erinnerungen an die Unterwelt heimgesucht, an Massaker, die er verübt hatte, an abgrundtiefe Einsamkeit. Und trotzdem…
»Trotzdem«, dachte sie, »bist du ins Dara zurückgekehrt.«
Der junge Mann hob den Kopf und warf ihr einen verwirrten Blick zu. Er runzelte die Stirn, als hätte er ihre Gedanken gehört.
Souanne war völlig entgeistert, als ihr dämmerte, dass genau das geschehen war. Sie konnte sich mit ihm in Gedanken verständigen.
»Du bist ins Dara zurückgekehrt«, wiederholte sie. »Nicht ins Karu. Nol der Seltsame hat es in dir gesehen, Guederic. Du gehörst in die Gärten, nicht in die Unterwelt. Die Finsternis, die dich umgab, stammte von Saat, nicht von dir selbst.«
Zornig wischte sich der junge Mann die Tränen vom Gesicht. Ihre Worte schienen ihn zu verunsichern. Souanne war erstaunt, wie leicht ihr diese Art der Verständigung fiel. War das der Zustand der Entsinnung? Gewann sie durch die Rückkehr ins Jal ihre frühere göttliche Macht wieder? Es sah ganz so aus…
»Du hast dir nichts vorzuwerfen, mein Bruder. Das weißt du selbst. Der wahre Dämon, das war der Hexer und nicht du.«
»Ich… ich weiß nicht mehr, wer ich bin«, antwortete der junge Mann.
»Du bist, wer du zu sein entscheidest. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, Guederic. Und die Gegenwart auch nicht. Nur die Zukunft liegt in unseren Händen.«
Er nickte, und seine Zustimmung machte der jungen Frau Mut. Im Grunde waren die ganzen schönen Worte an sie selbst gerichtet. Sie musste einfach an die Freiheit glauben. Sie wollte Souanne bleiben, zumindest ein bisschen, wollte ihre Erinnerungen, Hoffnungen und Sorgen nicht aufgeben, auch wenn sie nicht länger ignorieren konnte, dass sie im früheren Leben eine Göttin gewesen war. Und nun war es Guederic, der ihr den Weg wies: »Wir haben noch etwas zu erledigen«, erinnerte er sie. »Wir sind die Einzigen, die dazu imstande sind.«
Er zeigte auf den schwarzen Felsen, der in die Landschaft ragte und die Schönheit des Tals befleckte. Souanne hatte kaum Zeit zu nicken. Sombre trat hinter dem Felsen hervor und lief auf denjenigen zu, der schuld an seinem Unglück war.
Souanne folgte ihm, ohne zu zögern. Hätte sie auch nur den Bruchteil einer Dezille nachgedacht, wäre sie vielleicht geblieben, wo sie war. Sie hätte sich alle möglichen Ausreden einfallen lassen: Es war nicht der richtige Moment, sie brauchten einen Plan oder mussten auf ein Wunder warten. Doch für solche Gedanken war es nun zu spät.
Die anderen hatten ebenfalls ihre Deckung verlassen und sich Guederic und ihr angeschlossen. Souanne konnte keinen Rückzieher mehr machen. Die Erben rannten gemeinsam zwischen Blitzen, Feuerkugeln und umherfliegenden Gesteinsbrocken auf den aufragenden Stachel aus Gwel zu.
Niemals war das Chaos,
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