Die Götter - Die Macht der Dunkelheit - Grimbert, P: Götter - Die Macht der Dunkelheit - Les Gardiens de Ji, Tome 3: Le deuil écarlate
ertragen, hieß es im Volk. So umgab ihn die Trauer um Lyn’a’min wie ein Glorienschein. Es war, als würden König und Königin zu einer Person verschmelzen. An dieses Bild klammerte ich mich zuweilen, nur um es einen Augenblick später voller Grauen wieder zu verscheuchen.
Der einzige B’ree, der in diesem Jahr ein wenig lächeln konnte, war Najel, der Säugling. Zumindest nahm ich das an, denn ich schenkte ihm keinerlei Beachtung. Im Gegenteil, ich tat mein Möglichstes, um mich von ihm fernzuhalten. Auch wenn man mir immer wieder vorhielt, dass der Kleine nichts für den tragischen Tod seiner Mutter könne und dass es einem Wunder gleichkomme, dass er überhaupt überlebt habe. Aber jedes Mal, wenn sein Jauchzen durch die Gänge des Palasts hallte, weil mein Vater oder eine Amme ihm den Bauch kitzelten, empfand ich dies als Beleidigung des Andenkens meiner verstorbenen Mutter.
Das schreckliche Trauerjahr endete schließlich mit dem Besuch eines weißbärtigen Arkariers, eines wahrhaftigen Riesen namens Bowbaq. Heute weiß ich, dass er der einzige Erbe von Ji war, der meinem Vater die Freundschaft gehalten hatte. Ob das an ihrer gemeinsamen Leidenschaft für das Angeln und Jagen lag? Oder daran, dass Bowbaq außerstande war, irgendjemandem böse zu sein? Das würde zumindest erklären, warum wir im vergangenen Mond zuerst ihn aufgesucht haben. Doch zum damaligen Zeitpunkt wusste ich noch nichts von ihrer gemeinsamen Geschichte. Ich hörte nur, wie Bowbaq meinem Vater sein tiefstes Beileid aussprach und ihm auch die Anteilnahme all ihrer einstigen Freunde übermittelte. Ke’b’ree dankte ihm, erklärte aber, dass sich sein Standpunkt nicht geändert habe, was den Arkarier traurig stimmte. Doch anstatt weiter zu bohren, wandte er sich dem kleinen Najel zu, den ihm mein Vater ohne Zögern in den Arm legte.
Dann durfte ich mir die üblichen Banalitäten anhören: wie hübsch er sei und wie sehr er seiner Mutter ähnele und all die abgedroschenen Phrasen, bei denen ich sonst sofort die Flucht ergriff. Doch diesmal hatte ich dazu keine Gelegenheit. Ehe ich mich’s versah, hatte Bowbaq das Balg schon an mich weitergereicht.
Gespannte Stille senkte sich über den Raum, und unwillkürlich duckten sich Ammen, Soldaten und Diener in Erwartung meines Wutausbruchs. Selbst der König hatte es bisher wohlweislich vermieden, mir etwas Derartiges zuzumuten. Und tatsächlich bedachte ich den Hünen sogleich mit einem hasserfüllten Blick. Doch mein Unmut hielt seinem freundlichen Lächeln nicht lange stand. Der alte Mann hatte keinen Funken Boshaftigkeit in sich und konnte sich gar nicht vorstellen, dass sich eine Schwester weigern könnte, ihren kleinen Bruder auf den Arm zu nehmen. Und als ich auf den Säugling herabblickte, wurde mir schlagartig klar: Dies war mein Bruder. Er hatte Mamas Augen, und ganz Wallos wusste es bereits, nur ich nicht.
In den folgenden Jahren kehrte ein wenig Freude in unser Leben zurück, auch wenn wir noch immer trauerten. Ich versuchte ein paarmal, Najel zu hüten, aber ich bin nicht sehr geduldig, und seine verzärtelte Art geht mir manchmal gehörig auf die Nerven. Vor seiner Geburt hatte ich Angst, dass er meinen Platz einnehmen würde, doch später wünschte ich mir, dass er zu einem starken und von allen gefürchteten Mann heranwachsen würde, zu einem Verbündeten, auf den ich zählen könnte.
Doch nachdem er letzte Nacht von einem wahnsinnigen Dämon entführt wurde, wünschte ich mir nur noch, ihn lebendig wiederzusehen.
So kann es nicht weitergehen. Wir alle haben zu viele Geheimnisse voreinander, und diese Geheimnisse bringen uns in Gefahr.
Ich werde auf eine alte Tradition der wallattischen Klane zurückgreifen. Sollte das zum Ende des Bunds der Erben führen, dann sei es so.
Zumindest weiß ich dann, gegen wen ich meine Lowa erheben muss.
ERSTES BUCH
SEGELSTOFF UND LEICHENTUCH
S ouanne dachte schon, die Sonne würde niemals aufgehen. Nachdem die Erben die ganze Nacht zwischen den Inseln des Schönen Landes umhergeirrt waren und angestrengt in die Dunkelheit gestarrt hatten, wirkte das blasse Morgenlicht auf ihre blutunterlaufenen Augen wie lindernder Balsam. Leider hielt das Wohlgefühl nicht lange an. Die Sonne stieg allzu rasch, und ihr Licht, das vom Mittenmeer gespiegelt wurde, war grell und kaum zu ertragen für jemanden, der so lange nicht geschlafen hatte.
Trotzdem zwang sich die junge Frau, ein letztes Mal den Horizont abzusuchen. Dann gab sie Damián, der am
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