Die Götter von Freistatt
wurden. Molin konnte seine göttliche Abstammung als Ehre ansehen, denn es war auf die traditionell anerkannte Weise dazu gekommen. Doch wie sah es mit Tempus aus? Der Höllenhund trug Vashankas Zeichen, war jedoch fern aller Tempel geboren.
»Wer gibt uns das Recht, die Macht der Götter zu lenken?« entgegnete der Prinz ausweichend und ohne Molin anzusehen.
Der Hohepriester richtete sich zu seiner vollen Größe auf und überragte den Prinzen nun um einige Fingerbreit. Er straffte die Schultern, als trüge er den goldenen Kopfschmuck seines Amtes auf der Stirn. »Mein Prinz, wir sind die Lenker, die einzig wahren Lenker. Ohne die Vermittlung einer dieser Aufgabe geweihten Hierarchie würden die Bande der Tradition reißen, die Vashanka - sein-Name-sei-gepriesen - zu unserem Gott und uns zu Seinen Gläubigen macht. Die Rituale des Tempels, deren Ursprung eins ist mit ihm, sind der Ausgleich zwischen Sterblichen und Unsterblichen. Jeder, der sich diesen Ritualen entzieht, selbst aus noch so triftigen Gründen -jeder, der nicht auf den Ruf der Hierarchie in ihrer Bedrängnis hört, verändert die Beziehung zwischen Gott und Gläubigen und fügt dadurch beiden großen Schaden zu!«
Wieder brachte der erfahrene Hierarch den erschrockenen jungen Prinzen dazu, den Blick abzuwenden. Molin war sich nur zu bewußt, daß er mit seinen Worten über die strikte Einhaltung der Rituale etwas übertrieb. Aber es stimmte, daß Vashankas Ungnade sehr unangenehm werden konnte, wenn er nicht geziemend besänftigt wurde. Die Rituale waren alle dazu gedacht, einen ungemein launenhaften und in jeder Beziehung unersättlichen Gott in Schach zu halten.
Vor Molins Fenster wurde es lauter, und der Tumult übertönte seine Stimme. Die täglichen Urteile wurden verkündet. Morgen sollten wieder zwei Missetäter gehenkt werden. Kadakithis zuckte zusammen, als er hörte, wie in seinem Namen die schrecklichen Strafen gerechtfertigt wurden, die von den Reichsgesetzen vorgeschrieben wurden. Noch mehr zuckte er zusammen und wich noch weiter vom Fenster zurück, als sich ein großer schwarzer Vogel auf das Fensterbrett setzte und den Kopf schief legte, um die beiden Männer neugierig zu beäugen. Der Prinz scheuchte ihn zum Galgen zurück.
»Ich werde tun, was ich kann, Molin. Ich spreche mit meinen Beratern.«
»Mein teurer Prinz, wenn es um das seelische Wohlergehen Seiner kaiserlichen Hoheit in Freistatt geht, bin ich Euer einziger vertrauenswürdiger Berater.«
Molin bedauerte seine unüberlegte Heftigkeit sofort. Obgleich der Prinz ihm mit glatten Worten Versicherte, daß dem so sei, war der Vashanka-Priester überzeugt, daß der Höllenhund Tempus noch vor Sonnenuntergang von dem jugendlichen Statthalter eingeweiht würde.
Tempus war ein Schreckgespenst, ein Dorn, ein bösartiges Geschwür in der natürlichen Ordnung der Dinge; ein Sohn Vashankas, ein echter Sohn, zweifellos, und völlig unbelastet von jeglichem Zwang durch Ritual und Hierarchie. Selbst wenn nur ein Bruchteil der Gerüchte über ihn einen wahren Kern besaßen - beispielsweise, daß er die Vivisezierung auf Kurds Tischen überlebt hatte ... Nein, es war nicht glaubhaft! Tempus konnte nicht wirklich unantastbar für die Hierarchie sein!
Molin überlegte kurz. Nun, sagte er sich, auch ich bin ein echter Sohn. Soll der Prinz doch schwitzend zu ihm laufen! Soll er sich doch mit Tempus beraten! Sollen sie sich doch gegen mich verschwören -meine Pläne werden trotzdem gelingen!
Generationen von Priestern hatten Generationen von wahren Vashanka-Söhnen aufgezogen. Der Gott war nicht mehr ganz so blutdürstig wie früher, er konnte gezügelt werden. Und schließlich war Molins Zweig der Familie weit größer als Tempus’.
Er blickte dem Prinzen, als er ging, nunmehr ohne Besorgnis nach. Die Krähe kehrte zum Fensterbrett zurück und wartete ungeduldig auf ihr tägliches Futter - eine in Wein getauchte lebende Maus, die der Stumme herrichtete und der Priester ihr brachte. Molin verfolgte sie mit dem Blick, während sie zwischen den Dächern des Labyrinths verschwand, noch lange nachdem seine Gemahlin begonnen hatte, nach ihm zu rufen.
4
Seylalha verhielt sich völlig ruhig, während die mürrischen Frauen das seegrüne Gespinst um sie drapierten. So wenig Hemmungen sie hatten, sie voller Absicht mit den Nadeln zu stechen, so behutsam gingen sie mit der feinen Seide um. Schließlich traten sie zurück und bedeuteten ihr, sich für sie auf den Zehenspitzen zu drehen.
Bei der
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