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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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verführerisch sein. Ich war schön, bis ich zu … dem hier geworden bin.“
    Angeekelt hob sie ihren großen Busen an.
    „Ich sehe aus wie ein Schlachtschiff. Es ist schrecklich, sich in einem fremden Körper eingeschlossen zu fühlen. Im Inneren bin ich zwanzig, nein, so alt wie Sie. In dem Alter, als ich meinen Kurt kennengelernt habe.“
    „Wie haben Sie ihn verführt? Ich zweifle nicht an Ihren körperlichen Reizen, aber Herr Gödel war ein außergewöhnlicher Mann.“
    Adele drehte den Ehering an ihrem aufgedunsenen Fleisch. Dieser Anblick tat Anna weh. Die alte Dame hatte sich nicht entschlossen, den Ring an einer Kette um den Hals zu tragen – sie zog diesen kleinen Schmerz einem symbolischen Verrat vor.
    „Wissenschaftler sind ganz normale Männer, ob sie nun Genies sind oder nicht. Ich habe ‚Adeles Theorem‘ angewandt – es hat mich nie im Stich gelassen. Aber die Welt hat sich verändert, Sie selbst haben mich darauf aufmerksam gemacht.“
    Adele lächelte schelmisch. Zwei Sonnenstrahlen strichen über die Wand. An ihrem Schnittpunkt schien sich ein perfektes, leuchtendes Viereck zu öffnen wie ein weiteres Fenster. „Gott ist mit uns“, seufzte Adele. Die beiden Frauen betrachteten diese vergängliche, wogende Poesie, bis dass eine Wolke sie mitnahm.
    „Zuallererst muss man es verstehen, den Männern zuzuhören. Lassen Sie sie reden, auch wenn sie über ein Thema schwadronieren, von dem Sie selbst mehr verstehen – vor allem dann! Und wenn nicht, dann verleiben Sie sich ihre Worte ein wie himmlisches Manna. In jedem Mann schlummert ein Prophet. Wenn ihn seine ‚liebe Mama‘ als Kind ein wenig vernachlässigt hat, sind Sie eine Offenbarung. Mit Ihrem Madonnengesichtchen dürfte das ja kein Problem sein.“
    „Gibt es ein Wort für weiblichen Machismus?“
    „Ist mir doch wurst! Nur das Ergebnis zählt.“
    Anna hütete sich, Adele zu sagen, dass sie sie an ihre Mutter erinnerte. Rachel hatte nie darauf verzichtet, alle Register zu ziehen. Anna aber hatte die Ambivalenz ihrer Sozialisation nie überwunden: den Doppelbefehl, Verführerin und Intellektuelle zu sein. Die eine untergrub immer die andere. Und eine Mischung beider Seiten schien ihr unangemessen, ja peinlich zu sein. Sie wartete lieber, bis sie verführt wurde.
    „Ich vertraue auf die Grundlagen der Metallverarbeitung. Erst muss man das Objekt erhitzen – wie, das muss ich Ihnen nicht erklären. So naiv sind Sie nicht. Dann bekommt es eine brutale Abkühlung. Das ist unübertroffen.“
    „Haben Sie diese Methode bei Kurt Gödel angewandt?“
    „Er war immer sehr empfänglich für meine Schmeicheleien.“
    Kokett stützte sie ihr Kinn auf die Hände und sagte mit betörender Stimme:
    „‚Kurtele, dein Beitrag war bei Weitem der beste!‘ Da sah ich ihn lächeln. Auch wenn ich, unter uns gesagt, während des Vortrags heimlich ein kleines Nickerchen gehalten habe.“
    „‚Adeles Theorem‘ induziert ein Verhalten, bei dem wir uns aus freien Stücken unterwerfen müssen, um die Männer zu verführen. Tut mir leid, Adele, aber das ist reaktionär.“
    „Einen Mann zu verführen ist gar nichts – ihn zu halten ist schwierig. Und das lohnte die Mühe, trotz allem. Am Ende hängt alles von der Erziehung ab, die die Mutter dem auserwählten Mann angedeihen ließ. Wenn er immer der Mittelpunkt war, dann will er es auch bleiben. Wenn er vernachlässigt wurde, muss er bestärkt werden.“
    „Und wie war die Erziehung Ihres Mannes?“
    „Genau in der Mitte zwischen dem einen und dem anderen.“
    Anna dachte an Mariannes Briefe, die Adele verbrannt hatte. Die Beziehung zwischen den beiden „Frau Gödel“ musste unglaublich schwierig gewesen sein.
    „Lassen wir meine Schwiegermutter in Frieden ruhen. Ich werde sie früh genug wiedersehen. Wenn Sie an meiner Theorie zweifeln, probieren Sie mal das hier aus: Blicken Sie einem Mann in die Augen, ohne zu blinzeln, und flüstern Sie ihm dann – Obacht! – ohne jeglichen Hauch von Sarkasmus zu: ‚Wie stark du bist!‘“
    Anna musste ein verrücktes Lachen unterdrücken. Sie war außerstande zu beurteilen, wie ernst Adele es meinte und wo der Pferdefuß war.
    „Sie werden sehen, dass keiner widerstehen kann. Dieser Satz lässt den Männern die Hirnhaut erstarren. Natürlich sind manche resistenter, aber für einen kurzen Moment neutralisiert diese Äußerung ihren Verstand. Sie streichelt ihr prähistorisches Hirn. Es ist ein Kurzschluss, den die Mütter ihren Buben

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