Die Göttin der kleinen Siege
retten?
„Kurt, ich spüre, dass Sie angespannt sind.“
Mein Mann zuckte zusammen. Er hatte nicht erwartet, so leger angesprochen zu werden.
„Sie müssen mich über Ihre Methode aufklären, Doktor Hulbeck. Aus welcher Schule sind Sie? Ich habe mich über die verschiedenen Therapieformen informiert.“
„Freudianer bin ich nicht, im Grunde auch kein Jungianer. Ich stehe außerhalb der strengen, traditionellen Schulen. Wenn ich einen Meister nennen muss, dann würde ich sagen, ich stehe Ludwig Binswanger nahe, einem Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker, der sich von der Wiener Schule gelöst und die Daseinsanalyse begründet hat.“ 25
„Was verstehen Sie unter Daseinsanalyse?“
„Es ist hier nicht meine Aufgabe, Ihnen einen Vortrag zu halten.“
Mein Mann betrachtete wieder die Wände. Da ich ihn kannte, wusste ich, dass er es nicht verabsäumen würde, Hulbecks Referenzen im Detail zu prüfen. Eingerahmt von der schrecklichen Kunstsammlung, waren seine Approbation als Mediziner und die Tressen als Stabsarzt bei der Marine kaum richtig ernst zu nehmen. Ich überlegte, ob diese Masken Reisesouvenirs waren oder Kriegstrophäen aus der Psychiatrie – abgehackte Köpfe. Meinen Kopf würde er nicht bekommen.
„Ziehen Sie Ihren Mantel aus, Kurt, dann fühlen Sie sich wohler.“
Mein Mann rührte sich nicht. Er klammerte sich an seinen Überzieher wie eine junge Braut an ihr Nachthemd. Ich hatte mich erst einmal aufs Sofa gesetzt und saß steif da, mit dem Rücken im Leeren. Die Sitzbank aus kaltem Leder und mit verchromten Füßen schien mir für Vertraulichkeiten nicht gerade förderlich zu sein. Damit Kurt mich nicht berühren brauchte, musste er mit einem niedrigen Sessel vorliebnehmen, der mit dem langhaarigen Fell eines wilden Tiers bedeckt war. Er ließ sich von diesem riesigen weiblichen Schoß einverleiben. Der Psychiater ging dreimal durchs Zimmer, bevor er sich setzte und eine kleine Trommel auf den Schoß nahm. 26 Er wirkte wie eine deutsche Dogge – anhänglich, aber bissig. Ich rechnete fast damit, dass er ans Bein seines Sessels pinkelte. Er tat nichts dergleichen, dafür quälte er uns mit einem dröhnenden Ständchen.
„Kann einer von Ihnen die Gründe für diesen Schritt in Worte fassen?“
Kurt sah mich fragend an. Ich schenkte ihm die Eröffnung.
„Meine Frau ist sehr cholerisch.“
Charles erstickte den Versuch einer Erwiderung meinerseits in einem Trommelwirbel.
„Antworten Sie nicht, lassen Sie ihn reden.“
„Adele kann sich nicht beherrschen. Sie schreit wegen nichts und wieder nichts. Sie stört mich bei der Arbeit.“
„Warum sind Sie wütend auf Ihren Mann, Adele?“
„Wollen Sie eine erschöpfende Liste? Er ist egoistisch, kindisch, paranoid. Alles dreht sich um seine Gesundheitsproblemchen.“
„Litt Ihr Mann nicht immer schon unter einer schwachen Gesundheit?“
„Ich kann nicht mehr. Er geht zu weit. Seine Kränklichkeit ist für alles eine gute Entschuldigung.“
„Können Sie das genauer erklären?“
Dieser komische Kauz ging mir langsam auf die Nerven. Wenn ihm daran gelegen war, uns zum Reden zu bringen, dann sollte er seinen Willen haben!
„Verdammte Scheiße! Auch ich bin zerbrechlich. Er, das Genie, seine Karriere, seine Krankheiten, seine Ängste! Da ist kein Platz für meine Ängste.“
Kurt fuhr zusammen. Er konnte Vulgarität nicht ausstehen, mir aber verschaffte sie Erleichterung. Nicht alle drückten ihr Unwohlsein auf dieselbe Weise aus. Ich konnte ihn nie verstehen, denn ich brüllte und schimpfte, ich war obszön, so traurig obszön! Meine Melancholie war vielleicht nicht so elegant wie Kurts Schwermut, aber sie war nicht weniger tief. Mein Leid konnte es mit dem seinen aufnehmen, doch seine Depressionen hatten ihm immer gute Rechtfertigungen gegeben, um sich bei anderen nicht einzumischen und vor allem keine Partei zu ergreifen. Um sich zu schützen, hatte er eine wundervolle schwarze Legende um sich herum gebildet, aber die Schutzmauern waren zu Gefängnismauern geworden.
„Warum bezeichnen Sie Ihren Mann als paranoid? Das ist ein sehr exakter klinischer Begriff.“
„Er fühlt sich verfolgt. Seinen Worten nach werden wir vom FBI abgehört. Ein idealer Vorwand, um überhaupt nichts zu sagen!“
„Wie sind Sie zu diesem Schluss gekommen, Kurt?“
„Ganz einfach durch Deduktion. Ich stehe Einstein und Oppenheimer nahe, alle beide wurden von der McCarthy-Kommission belästigt. Überdies habe ich mehrere zensierte Briefe
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