Die Göttin der kleinen Siege
Irren. Wo ist der Mann geblieben, den ich geliebt habe, wo sind die Musik, die Feste? Wohin ist meine Jugend verschwunden? Mit all seiner Intelligenz hätte er reich werden können, wenn er seiner selbst nicht unwürdig gewesen wäre. Andere leben in Palästen mit Hauspersonal und wissen nicht, was sie damit anfangen sollen. Doch unser armer Schatz ist zu zerbrechlich, um Verantwortung zu übernehmen. Zu perfektionistisch, um seine Arbeiten zu veröffentlichen. Er weigert sich, zu kämpfen. Das muss ich für ihn tun. Also lebt Adele in einem Haus aus Papier. Adele dreht jeden Cent zweimal um, wenn sie sich Strümpfe kaufen will – aber Kurt braucht tadellose Anzüge und immer neue Hemden. Er ist ein verzogenes Kind. Ein Flegel. Soll er doch seiner Mutter schreiben und ihr all den Kummer erzählen, den ich ihm bereite. Und dass er ja nicht vergisst zu erwähnen, wie sehr ihn meine Küche anwidert! Dass er Angst hat, von seiner eigenen Frau vergiftet zu werden. Da ernährt er sich doch lieber nur von Butter. Wenn ich ihn hätte umbringen wollen, dann hätte ich ihn in Purkersdorf verrecken lassen können. Er hat Schmerzen? Wie schön – dann ist er immerhin noch am Leben.
39.
Anna blieb unter dem Vordach von Pine Run stehen und begrüßte Jean, Adeles Lieblingspflegerin. Die Krankenschwester jonglierte mit einer Tasse dampfendem Kaffee und einer Zigarette. „Sie sind ja so hübsch, Miss Roth! Haben Sie etwas mit Ihren Haaren gemacht?“ Aus Reflex fasste Anna sich an den Kopf. Zu ihrer großen Überraschung hatte der kleine rosa Derwisch ein gutes Händchen gehabt. Anna hatte es festgestellt, als sie schnell zu einem Spiegel gerannt war, sobald die Sitzung beendet gewesen war. Jean nutzte die Gelegenheit und sprach mit Anna über Adeles Gesundheitszustand. Die alte Dame war sehr aufgeregt, und man schaffte es nicht mehr, ihren Blutdruck zu stabilisieren. Anna kniff die Lippen zusammen – ihr kleiner Ausflug war nicht ohne Folgen geblieben.
Jean trat den Stummel mit ihren Galoschen aus und schob die halb gerauchte Zigarette in die Tasche. „Gladys hat Ihnen die Haare geschnitten, und Sie haben Adele mit ins Kino genommen. Sie sind mir so eine Abenteurerin!“ Lachend ging sie weg.
Adele machte wieder ihren Backfischschmollmund – sie langweilte sich zu Tode.
„Sehen Sie nicht fern?“
„Da kommt nur Scheiße hoch zehn.“
„Soll ich Ihnen zur Abwechslung etwas vorlesen?“
„Erbarmen, nein! Eine Unterhaltung ist mir weitaus lieber. Sie lieben die Bücher zu sehr und die Menschen zu wenig. Wie mein Mann.“
Diesen Vorwurf hatte Anna sich schon ihr Leben lang anhören müssen. Als sie klein war, hatte man sie hinaus an die Luft gezwungen. Sie hatte sich im Schrank versteckt, um weiterlesen zu können. Seit ihrer kleinlauten Rückkehr nach Princeton las sie ausschließlich Krimis, als würde die fiktive Not ihr den tristen Alltag versüßen. Anderen waren Kitschromane zuwider, Anna aber verschlang sie in verschämter Heimlichkeit unter ihrer Federdecke: Morde, Vergewaltigungen, Huren, Zuhälter, Dealer, Blowjobs. Sie brauchte die andere Dimension, in der diese schwarzen Wörter keimten. Sobald sie das Buch zugeklappt hatte, wusch sie sich die Hände, trank ein Glas Wein und erlebte trotz ihres besudelten Herzens einen Moment der Erleichterung.
„Ich habe das Gefühl, andere besser verstehen zu können, indem ich lese.“
„Niemand kann in den Kopf eines anderen Menschen schauen. Sie müssen lernen, mit dieser Einsamkeit zu leben. Daran kann kein Buch etwas ändern. Nur der Arsch ist ehrlich mit einem.“
Adele schielte sie an. Anna hatte nicht mit der Wimper gezuckt.
„Fehlt Ihnen Sex so sehr?“
Adele Gödel lächelte. Der Gedanke, dass sie dem Nachlass einen Schritt näher war, kam Anna in den Sinn, sie dachte aber nicht weiter darüber nach und wunderte sich über ihre Gleichgültigkeit.
„Das Verlangen fehlt mir mehr als die Lust selbst. Ich war sehr hungrig auf diesem Gebiet. Kurt hatte seine Bemühungen zu früh eingestellt. Er hat seinen Körper diesbezüglich vernachlässigt – und gleichzeitig meinen Körper.“
„Wie haben Sie dieses Kap umschifft?“
„Ob ich fremdgegangen bin? Nein. Ich bin sehr streng erzogen worden. Davon sind bis heute Spuren geblieben. Ich habe sehr gelitten in den Jahren, in denen wir in Sünde gelebt haben, wie man damals sagte, und ich habe mir geschworen, eine vorbildliche Ehefrau zu sein. Das war ich auch. Dennoch konnte ich noch immer
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