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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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und seine Kusine geheiratet. Von seinen Geliebten will ich gar nicht reden! Aber urteilen wir nicht über ihn – jeder hat eine komplizierte Lebensgeschichte. Es gibt keinen großen Wissenschaftler und keinen großen Künstler, der nicht auch ein großer Egoist gewesen wäre. Und mein Mann war ein großer Wissenschaftler! Aber Kurt war ein Kind. Die Welt drehte sich um ihn, bis es Probleme gab, und das wollte er nicht akzeptieren.“
    Während die Friseurin eine lange Strähne abschnitt, stimmte sie zu.
    „Männer sind Egoisten! Das können Sie mir glauben, ich habe sie scharenweise ausprobiert.“
    Adele beachtete sie nicht und fuhr fort:
    „Warum offenbart sich das Genie in so jungen Jahren? Wie bei den Dichtern. Schließen sich die Pforten des Reichs der Ideen mit der Reife?“
    Gladys nickte.
    „Das muss an den Hormonen liegen. Danach bekommen sie einen Bauch und kümmern sich nur noch darum, was es zum Abendessen gibt.“
    Mit einer verächtlichen Handbewegung fegte Adele diese Bemerkung weg. Nachdem sie sich immer der Intelligenz ihrer Kreise hatte unterordnen müssen, machte es ihr nun Spaß, ihrerseits Herablassung zu zeigen.
    „Lebenserfahrung kann das gleißende Licht der Jugend nicht ersetzen. Die mathematische Intuition lässt so schnell nach wie die Schönheit. Von einem Mathematiker sagt man, er sei ein Genie gewesen, so wie man von einer Frau sagt, sie sei eine Schönheit gewesen. Die Zeit ist ungerecht, Anna. Als Frau sind Sie nicht mehr ganz jung, als Mathematikerin wären Sie es noch viel weniger.“
    Anna dachte an Leo – wie ertrug er diesen Fluch? Immer war ihm alles leicht gefallen, ein Scheitern hatte er nie zugegeben. Seine Eltern hatten ihn sogar von allen sportlichen Wettkämpfen fernhalten müssen, denn jede Niederlage war in nackte Wut, in Beschimpfungen und schließlich in unerträgliches Schweigen gemündet. Im Lauf der Jahre hatte er alle Betätigungen aufgegeben, die in keinem direkten Bezug zu seinem angeborenen Talent standen. Vielleicht würde er einer dieser Männer werden, die wiederkäuten, was sie gewesen waren, und leugneten, dass sie es nicht mehr waren; dabei mauerten sie sich in einem hermetischen, sterilen System ein, denn sie waren zu faul, um der Realität Rechenschaft abzulegen. Anna verspürte keine Lust, für Leo da zu sein und die Scherben aufzulesen, wie Adele es bei Kurt getan hatte.
    „Wären Sie gern Wissenschaftlerin geworden, Adele?“
    „Ich wäre gern Hedy Lamarr gewesen. 24 Kennen Sie sie?“
    Gladys konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen.
    „Sie hatte wundervolles Haar. Aber sie ist wohl nicht mehr ganz frisch. In den Zeitungen steht, dass sie jetzt in Läden klaut.“
    „Hedy war eine fantastische Schauspielerin, sie hatte einen ganz reinen Teint und außergewöhnlich blaue Augen. Sie hat 1933 die erste Nacktszene in der Filmgeschichte gedreht. Der Film heißt Ekstase und war ein Skandal.“
    „Mein zweiter Mann hat mich nackt fotografiert. Ich hätte Mannequin werden können.“
    „Hedy Lamarr war eine Wiener Jüdin. Wie wir, ist sie in die USA ausgewandert. Während des Krieges hat sie an einem Verfahren zur Funksteuerung von Torpedos gearbeitet und dabei weiter ihre Filmkarriere vorangetrieben.“
    „Wie eine Romanheldin.“
    „Ein Kinostar, junge Frau! Sie hat die Leinwand zum Leuchten gebracht.“
    Gladys hielt mit beiden Händen ein verchromtes Gerät hoch.
    „Fertig. Nun werde ich Ihnen die Haare fönen. Von Torpedos verstehe ich nichts, aber ich bin die Königin der Fönwelle, glauben Sie mir!“
    Anna biss die Zähne zusammen. Unter dem Rauschen des Föns war jeder Versuch, ein Gespräch weiterzuführen, vergeblich. Der kleine rosa Teufel vollendete sein Werk mit solch einer Verve, dass man es ihm unmöglich ausreden konnte. Wenn Anna am Abend nach Hause käme, würde sie sich erneut die Haare waschen, so wie immer nach einem Friseurbesuch.
    „Nicht so viel Volumen – ich will doch nicht aussehen wie Barbra Streisand!“

38.
1950
Hexe
    „Die Tiger der Wut sind weiser
als die Pferde der Belehrung.“
William Blake
     
     
    Ich hasse ihn. Ich rase von Zimmer zu Zimmer und könnte die Wände hochgehen. Ich hasse ihn. Vor dem Spiegel im Wohnzimmer bleibe ich stehen. Ich bin eine Hexe. Ein Klumpen aus blinder Wut. Eine Bombe. Ich zerschlage den verdammten Spiegel. Zehn Jahre Unglück? Ha, das hatte ich schon! Was kann mir Schlimmeres passieren? Ich betrachte die Scherben zu meinen Füßen. Ich schneide mich, als ich eine aufhebe.

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