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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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einpflanzen.“
    Dieses Mal lächelte Anna von Herzen – sie konnte sich das Getue der jungen Adele sehr gut vorstellen.
    „Alles hängt von einem überzeugenden Tonfall und einem treuherzigen Blick ab. Mein Theorem funktioniert auch bei Katzen.“
    „Ich werde es bei meiner Katze ausprobieren, bevor ich mich an der Spezies Mensch versuche.“
    „Die Haare an ihren Kleidern habe ich sehr wohl bemerkt. Meine Lieblingskatzen waren diese schwanzlosen Manxkatzen. Meine Nachbarn besaßen drei von dieser Rasse. Ich kam auf die Idee, dass ich meiner ganz gewöhnlichen Hauskatze den Schwanz abschneiden könnte, damit sie auch so aussah. Das habe ich ihnen gesagt, und sie beeilten sich, es mir auszureden – „der Schwanz ist wichtig für das Gleichgewicht der Tiere, Missis Gödel“, und so weiter und so fort. Sie haben überhaupt nicht begriffen, dass ich einen Scherz gemacht hatte! Ein paar Tage darauf wollte mir auch meine Friseuse diese Gräueltat ausreden. Unser Psychologe Hulbeck hatte seinen großen Auftritt! Ist die Frau des Verrückten auch verrückt? Ja! Ist die Frau des Genies auch ein Genie? Aber natürlich nicht! Da können Sie sehen, wie man mich in der Nachbarschaft beurteilt hat.“
    Adeles Sätze überstürzten sich. Anna dachte an die Warnung der Krankenschwester in den Galoschen – es war an der Zeit, das Spiel herunterzufahren. Sie hoffte, dass der Ausflug nicht die letzten Lebensreserven der alten Dame aufgebraucht hatte.
    „Gladys hat gute Arbeit geleistet.“
    Anna zwirbelte automatisch eine Haarsträhne zwischen den Fingern.
    „‚Du hast schönes Haar!‘ Das ist das weibliche Pendant zu ‚Wie stark du bist!‘. Selbst ein überqualifiziertes großes Mädchen kann dem nicht widerstehen. Vielleicht bin ich reaktionär, meine Fesche, aber mein Theorem ist ein Axiom. Und Sie würden gut daran tun, es in die Praxis umzusetzen. Was wollen Sie denn zu Thanksgiving tragen? Ich kann Sie mir gut in Rot vorstellen.“

40.
1952
Eine Couch für drei
    „Der Dadaist liebt das Leben,
weil er es täglich wegwerfen kann,
ihm ist der Tod eine dadaistische Angelegenheit.
Der Dadaist sieht in den Tag mit dem Bewusstsein,
dass ihm heute ein Blumentopf auf den Kopf fallen kann.“
Richard Huelsenbeck, En avant Dada!
     
     
    „Das ist keine Sitzung. Betrachten Sie es als eine einfache Unterhaltung.“
    Ich drückte meine Tasche an meinen Bauch. Kurt bemühte sich sehr, mich nicht anzusehen. Wir waren es nicht gewöhnt, uns bei einem Fremden auszusprechen, vor allem wenn dieser nicht wirklich ein Fremder war. Anfangs hatte ich dieses Gespräch für eine gute Idee gehalten. Aber nun, in diesem seltsamen Sprechzimmer gegenüber diesem noch seltsameren Mann, hatte ich das dringende Bedürfnis, die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen.
    Kurt erholte sich nur mühsam von einem Krankenhausaufenthalt. Seine letzte Krise hätte eine Art Déjà-vu-Erlebnis sein können, wenn er sich nicht seit seiner Entlassung gesträubt hätte zu essen, was ich zubereitet hatte. Wir waren in einer Sackgasse gelandet. Er misstraute mir. Wie zwei Fremde lebten wir gefangen in kränkendem Schweigen – Groll und Unverständnis.
    Albert, dem unsere Eheprobleme nicht entgangen waren, hatte uns einen taktvollen Psychoanalytiker empfohlen, Charles H. Hulbeck, einen seiner zahlreichen Schützlinge. Wie so oft war Kurt dem Rat seines alten Freundes gefolgt. Hulbeck, mit richtigem Namen Richard Huelsenbeck, war ein deutscher Emigrant der ersten Stunde und hatte durch die Fürsprache des immer hilfsbereiten Herrn Einstein ein Visum bekommen. Albert hatte ihn als einen lustigen Kerl beschrieben, einen durchgeknallten Künstler, aber fähigen Psychiater. Für mich waren Fantasie und Wissenschaft unvereinbar, und im Allgemeinen fand ich, dass sich die Leute nur zu gern über Themen ausließen, von denen sie nichts verstanden.
    Die Wände von Hulbecks Praxis hingen voll mit Kunstwerken. Abstrakte Collagen und große schwarze Farbflächen machten sich zusammen mit einem fratzenschneidenden Ensemble den Platz streitig – afrikanische Plastiken, japanische Theatermasken und Faschingskostüme. Mir fiel ein eher traditionelles kleines Aquarell auf. Ich schauderte, als ich es aus der Nähe betrachtete – ein sterbender Engel, dessen Beine von Flammen verzehrt wurden.
    „Mögen Sie William Blake, Adele?“
    Unsicher nickte ich. Was könnte dieser Irre für uns tun? Könnte ein einfaches Gespräch mit ihm unsere Beziehung vor dem Ertrinken

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