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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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herauslesen können! Ich hielt mich am Vorhang fest, damit meine zitternden Beine nicht unter mir nachgaben. Ich bekam kaum mehr Luft, solche Atemnot hatte ich. Morgenstern, der meine Schwäche bemerkte, schritt zu meiner Verteidigung ein.
    „Ihr Bruder hat immer nur gemacht, was er wollte, Rudolf. Niemand kann ihn zu etwas zwingen. Vor einem Monat habe ich ihn ins Krankenhaus gezerrt – kein Arzt konnte ihn dazu bringen, etwas zu essen. Trotz seiner Schmerzen weigert er sich sogar, sich an der Prostata operieren zu lassen. Adele hat alles Menschenmögliche getan.“
    „Kurt hat kein Vertrauen zu Ärzten. Er hat Angst, dass man ihm Narkotika oder sonstige Drogen verabreicht.“
    „Er ist nicht mehr imstande, selbst zu entscheiden. Im Namen der Zuneigung, die wir ihm alle entgegenbringen, flehe ich Sie an, Adele: Sagen Sie Ja!“
    „Er wird es mir übel nehmen. Er wird mich beschuldigen, wie alle anderen zu sein – und ihm nach dem Leben zu trachten!“
    „Ich wollte es Ihnen nicht sagen, um Sie nicht noch mehr zu beunruhigen, aber gestern Abend am Telefon hat Kurt mich gebeten, ihn bei einem Freitod zu unterstützen – wenn ich wirklich sein Freund wäre, müsste ich ihm Zyankali besorgen und sein Testament aufsetzen.“
    „Mein Gott! Das verstehe ich nicht. Letzte Woche ist er doch noch zum Arbeiten ins Büro gegangen. Er wirkte gar nicht so deprimiert.“
    „Über eine einfache Depression ist er schon weit hinaus – er leidet unter einer Psychose. Er muss künstlich ernährt werden und eine adäquate Behandlung bekommen.“
    Ich wollte mir das nicht mehr anhören. Ich ließ die beiden zusammen mit dem Arzt, der am Morgen notfallmäßig gerufen worden war, irgendetwas aushecken und schleppte mich in Kurts Zimmer. Es war vollgestopft mit Büchern, Papieren und Medikamenten und in Dunkelheit getaucht. Die Fenster waren nun immer geschlossen. Mehr als den abgestandenen Geruch fürchtete Kurt den Albdruck im Wachen. Seine schlaflosen Nächte waren von Herumtreibern und Weißkitteln bevölkert, die danach trachteten, seinen Geist auszuschalten. Nun schlief er endlich, hingestreckt von der Beruhigungsspritze, die er nach stundenlangen Verhandlungen mit Gewalt verabreicht bekommen hatte. Ich hörte die Männer durch die dünne Wand, sie redeten hinter meinem Rücken über mich.
    „Sie hat zu lange gewartet.“
    In den letzten Monaten war Kurt total abgemagert. Vielleicht hatte ich nicht ausreichend darauf geachtet, aber er hatte immer gearbeitet. Die Krankheit hatte seine geistigen Fähigkeiten nie so angegriffen wie seinen Körper. Aufgeschreckt von Kurts Zustand, hatte Morgenstern Rudolf gebeten, schnellstens nach Princeton zu kommen. Oskar selbst hatte Kurt nicht überreden können, zu essen. Mit welchem Recht warfen sie mir nun Nachlässigkeit vor? Trotz all ihrer Wissenschaft und ihrer Verachtung für mich hatten auch sie nicht viel mehr zustande gebracht als ich.
    Am Morgen hatte ich Kurt nicht in seinem Zimmer vorgefunden. Er hatte nicht auf meine Rufe reagiert. Am Institut war er auch nicht gewesen. Ein Nachbar hatte ihn vergeblich im Viertel gesucht. Er war verschwunden. Oskar hatte ihn schließlich in der Waschküche gefunden, er kauerte hinter dem Heizkessel. Er wirkte verängstigt, verstört, zeigte einen irren Blick. Er erkannte mich nicht, war aber überzeugt, dass nachts jemand ins Haus eingedrungen war, um ihm Gift in die Blutbahnen zu injizieren.
    Als ich jünger war, fürchtete ich wie alle, das Unheil auf uns herabsausen zu sehen wie ein Keulenschlag. Ich betrieb einen Ablasshandel mit dem Schicksal, ohne mir darüber klar zu sein, dass es uns bereits heimgesucht hatte. Das Unglück ist weniger erschreckend, wenn es sich anschleicht. Es betäubt einen, es lähmt die Sinne, damit es unerkannt bei einem einziehen kann. Ich hatte nicht verhindern können, dass Kurts Krankheit voranschritt, und mich geweigert, dieses Kind wachsen zu sehen. Die anderen sagen: „Wie groß er geworden ist, der Kleine!“ Doch die Mutter nimmt das Wachstum kaum wahr, es sei denn an der Hose, die zu kurz geworden ist. In Kurts Fall waren es die Anzüge, die zu weit geworden waren. Die Liebe ist blind gegenüber dem Wahnsinn, sie leugnet ihn. Der Wahnsinn ist eine hinterhältige Auflösung der Ordnung. Er zerstört ohne Schläge in einem langen Prozess mit unregelmäßigem Lauf, bis das Fass überläuft und es zu einem Schub kommt, der die Realität des Leugnens angreift und einem alles aus den Händen reißt, was man

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