Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
Vom Netzwerk:
es einmal kann, verlernt man es nicht mehr. Wie ich schon zu Leo sagte – ich füttere meinen Körper mit allen Sinnen.“
    Diese Bemerkung erwischte sie kalt: Ein Mann, der sich selbst zitierte. Grauenvoll! Wie ihr Vater.
    „Behandeln Sie Ihre Zweifel mit Sex?“
    „Mit Sinnlichkeit. Seien Sie nicht so spröde.“
    „Im Französischen gibt es viel zu viele Wörter für einen einzigen Begriff. Das Deutsche ist da sehr viel deutlicher.“
    „Haben Sie schon einmal versucht, auf Deutsch über die Liebe zu sprechen?“
    „Die Franzosen sind dermaßen arrogant! Sie geben vor, die Poesie zu lieben, aber Rilke haben Sie wohl nicht gelesen!“
    Mit den Händen in den Taschen machte sich Sicozzi wieder auf den Weg. In verstörendem Schweigen ging er bis zur ersten roten Ampel.
    „Entschuldigung, Anna, ich war nicht sehr galant. Trinken Sie trotzdem etwas mit mir?“
    „Hätten Sie vielleicht eine Zigarette?“
    „Sie sind hübsch, Anna.“
    „Wenn Sie mir jetzt noch vorgaukeln, dass ich schönes Haar habe, verschwinde ich auf der Stelle!“
    Mit einem entwaffnenden Lächeln, ohne seine übliche Ironie, bot er ihr eine Gitane an. Diese Version seiner selbst war wohl für wichtige Anlässe reserviert. Anna machte den ersten Zug, der weniger gut war, als sie ihn in Erinnerung hatte, und beschloss, seine Einladung anzunehmen. Er war charmant, klug und – das war seine herausragendste Qualität – nur ein zeitweiliger Besucher. Was konnte sie sich mehr wünschen? Sie würde nicht ihr Leben lang warten.
    „Was gefällt Ihnen an mir? Ich kann mir vorstellen, dass scharenweise attraktive Studentinnen vor Ihrer Tür warten.“
    „Ich stehe nur auf Frauen, die intelligent genug sind, nichts von mir wissen zu wollen. Vor allem, wenn sie ein rotes Kleid tragen.“

50.
1970
Fasttod
    „O heilige Mathematik, mögest du den Rest meiner Tage
durch fortwährenden Umgang mit dir über die Bosheit
der Menschen und die Ungerechtigkeit
des Groß-Alls trösten!“
Lautréamont, Die Gesänge des Maldoror , II,10
     
     
    Ich war so erschöpft, so durcheinander. Mir ging es schlecht. Ich hatte das schwindelnde Gefühl, nach vierunddreißig Jahren noch einmal denselben Albtraum zu durchleben. Rudolf, Oskar, ich und eine wandelnde Leiche. 1936 waren wir im Foyer eines Sanatoriums zusammengesessen. Die Zeit hatte unser schick eingerichtetes Wohnzimmer in ein kleines, angestaubtes Zimmer verwandelt. Ich hatte nicht mehr die Kraft, dort sauber zu machen. Auch die handelnden Personen hatten sich verändert: Rudolf war ein alter Fremder geworden; Oskar war vom Alter eingeholt worden, er kämpfte mit seiner üblichen Würde gegen den Krebs. Ich war nicht mehr die Adele aus Grinzing, sondern eine alte Frau. 1965 hatte man mich aus Neapel nach Hause transportiert, ich hatte einen „leichten Hirnschlag“ erlitten, wie sie es nannten. Seitdem musste ich mit ansehen, wie sich mein Körper und mein Geist auflösten. Alle meine Gelenke waren entzündet. Ich konnte mich nur mühsam bewegen. Die letzten Reserven meiner Lebenskraft schwanden. Anders als die junge, besorgte und verliebte Frau von 1936, hatte ich nun keine Hoffnung mehr auf bessere Zeiten. Ich maßte mir nicht mehr an, unersetzlich zu sein. Ich war hilflos.
    „Sie müssen ihn dringend ins Krankenhaus bringen, Adele.“
    „Das wird er nicht mit sich machen lassen.“
    „Wir müssen ihn dazu zwingen, wir müssen ihn internieren!“
    „Wie können Sie Ihrem eigenen Bruder so etwas wünschen? Ich habe ihm versprochen, dass er das nie wieder durchmachen muss.“
    „Das hier ist eine andere Situation. Sie können nichts mehr für ihn tun. Sie können sich ja selbst kaum noch aufrecht halten!“
    „Sie konnten mich noch nie leiden, Oskar.“
    „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um zu streiten, Adele. Kurt wird sterben, wenn wir nichts unternehmen. Verstehen Sie das? Er wird sterben!“
    „Er ist schon gestorben. Das hat er hinter sich.“
    „In diesem Stadium ist seine Anorexie fatal. Und wenn er nicht verhungert, dann macht sein Herz schlapp. Gar nicht zu reden von all diesem Teufelszeug, das er einnimmt! Ich habe Digitalis auf seinem Nachtkästchen gesehen! Wie konnten Sie zulassen, dass er sich derartig vergiftet?“
    Ich hatte nicht die Kraft, ihnen zu antworten. Sie taten so, als sei das alles völlig neu, als hätte Oskar nicht mitbekommen, dass sein Freund jeden Tag ein bisschen weniger wurde, als hätte Rudolf den Zustand seines jüngeren Bruders nicht aus jedem Brief

Weitere Kostenlose Bücher