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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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die Nase. Um zu tanzen, war ich zu alt, um mich in mein Schicksal zu fügen, zu jung. Hätte man mir fünf Jahre zuvor gesagt, dass ich eines Tages in alpenländischer Tracht Bier servieren würde, hätte ich gelacht und dem schlechten Propheten den nackten Arsch gezeigt. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Ich hatte mein Zimmer und meine Unabhängigkeit aufgegeben – mein Vater holte mich immer von der Arbeit ab, auf den Straßen war es zu gefährlich geworden. Wien ging vor die Hunde und gab sein nächtliches Gefurze von sich, es gab Krawalle und politische Zusammenstöße, von denen ich nichts verstand. Die Frage war in Deutschland gerade endgültig entschieden worden, in Österreich würde es auch sehr bald so kommen. Einige hatten schon ihr Lager gewählt. Liesa liebäugelte mit den katholischen Milizen der Heimwehr, was in Anbetracht ihrer leichtlebigen Vergangenheit fast schon ein Witz war. Andere Freunde der Nacht hatten das Feiern zugunsten der Politik aufgegeben und sich dem sozialistischen Schutzbund angeschlossen. Alles Marionetten! Keiner der aufeinanderfolgenden Koalitionen der Zwischenkriegszeit war es gelungen, das Elend der schlechten Zeit zu bannen. Die Spannung in den Straßen stieg und wurde von den Nazis noch angefacht – es drohten der deutsche Einmarsch und ein Generalstreik. Kanzler Dollfuß hatte das Land wieder in die Hand genommen und jede Opposition, ob von rechts oder von links, ausgemerzt. Er war der alleinige Kapitän an Bord eines sinkenden Schiffes.
    Nun hinderte die Nazis nichts mehr daran, die Macht zu übernehmen. Unseren Nationalrat mussten sie nicht abfackeln wie den Reichstag in Berlin – das Parlament hatte sich bereits selbst ausgeschaltet. Von den Landesgrenzen kamen leise Gerüchte über eine neue Ordnung. Bald würden sie auch hier schlechte Bücher verbrennen, Musik verbieten, die Kaffeehäuser zusperren und die Lichter in Wien löschen.
     
    An jenem Abend ließ mein Vater auf sich warten. Um meine Nervosität zu verdrängen, las ich zum fünften Mal Kurts letzten Brief. Ich lebte in der Schwebe zwischen seinen Briefen, beruhigt von ihrem regelmäßigen Eintreffen, enttäuscht von ihrer Gefühlskälte. Manchmal hasste ich den Absender – aber nie sehr lange. Liebesbeweise, die es nicht gab, stimmten mich zärtlich, jede Zeile erfüllt mich – halb Mutter, halb Geliebte – mit Sorge. Schläft er ausreichend? Denkt er an mich? Ist er mir treu? Er schien glücklich zu sein, doch wie lange? In wie vielen Tagen wird er die Vorhänge wieder zuziehen? Hat er Bauchschmerzen, Kopfweh? Ohne es mir einzugestehen, suchte ich nach Vorboten für einen Rückfall in eine distanziertere Ausdrucksweise. Um sie dieses Mal nicht zu übersehen.
     
    Princeton, den 10. Oktober 1933
     
    Meine liebste Adele,
    in Deinem letzten Brief fragtest Du wiederholt, wie es in Princeton und Umgebung denn so sei. Ich habe kaum Zeit für Tourismus. Aber um Deinen Vorwürfen zuvorzukommen, hier eine knappe Schilderung.
    Princeton ist ein Universitätsstädtchen im weiteren Umkreis von New York. Die Fahrt in die Metropole ist anstrengend. Um von der Universität zu dem kleinen abgelegenen Bahnhof Princeton Junction zu gelangen, muss man zuerst den Dinky nehmen, einen unbequemen Shuttle-Waggon. Nach zwei Stunden Fahrt erreicht man die Penn Station in Manhattan, zwischen 7. und 8. Avenue und 31. Straße West, in der Nähe einer Broadway-Kreuzung, wo es einem ganz schwindlig wird vor Lärm und Lichtern. Es ist also unnötig, mich zu bitten, „nicht jeden Abend durch New York zu streifen“. Dazu habe ich weder Kraft noch Lust.
    Mit dem IAS hingegen bin ich zufrieden. Das Programm ist sehr ambitioniert, und die Anwerbung von Mitarbeitern entspricht den Hoffnungen von Oswald Veblen und Abraham Flexner, dem ersten Institutsdirektor. Sie haben dort die ganze „Crème“ der modernen Wissenschaft versammelt. Sogar Herrn Einstein konnten sie gewinnen. Das ist eine ansehnliche Leistung, nachdem ganz Amerika bereit wäre, ihn aufzunehmen. Ich bin nicht leicht zu beeindrucken, aber ihn kennenzulernen war ein unvergessliches Erlebnis. Über eine Stunde haben wir über Philosophie gesprochen, Mathematik und Physik kamen kaum zur Sprache. Er gibt zu, in Mathematik zu schlecht zu sein! Dir würden dieser großartige Mann und sein Humor gefallen. Weißt Du, was er über Princeton sagt? „Princeton ist ein wundervolles Stückchen Erde und dabei ein ungemein drolliges zeremonielles Krähwinkel stelzbeiniger

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