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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Dienstmädchenzimmer hauste. Ihr Gehalt reichte kaum aus, um die Kosten für die Pflegeeltern des Kindes und die Betreuung des Alten zu decken. Sie sah ihr Kind nur ein Mal im Monat, dazu musste sie eine lange Reise mit dem Fahrrad aufs Land unternehmen. Sie zeigte mir oft Bilder ihres Kleinen, der ihr rotes Haar und sicherlich die dunklen Augen seines Vaters geerbt hatte. Anna kaschierte ihren russischen Akzent mit viel Wiener Schmäh, ihre slawischen Wurzeln jedoch konnte sie nicht verheimlichen. Sie hatte ein rundes Gesicht, vorstehende Wangenknochen und helle Mandelaugen, die ständig lächelten. Ihr feuerrotes, widerspenstiges Haar eilte ihr immer voraus, sie war nicht zu übersehen. Ich hatte ihr untersagt, ihr Haar blond zu färben, ich beneidete sie um ihre danaeische Haarpracht, die sie nur mit Mühe unter ihrer weißen Haube bändigen konnte. Ihr Leben war sehr viel schwieriger als meines, doch sie beklagte sich nie. Sie konnte zuhören und verlangte keine Gegenleistungen. Ich kannte sie zu wenig, um unaufrichtig zu ihr zu sein. Nach jedem Treffen mit Kurt rannte ich hinter das Gebäude und weinte, beklagte mein Schicksal und meine Hilflosigkeit. Er war so mager, so schwach! Anna drehte Zigaretten und wischte mir ohne ein Wort meine von Wimperntusche verschmierten Wangen sauber. Nur einmal erlaubte sie sich, mir einen Rat zu geben: „Wenn ihre Medikamente wirken würden, würden wir das wissen. Für mich gibt es da kein Geheimnis. Dein Freund braucht lediglich Liebe. Du musst ihn zu deinem Mann machen, meine Schöne.“
    Ich kam jeden Tag, wartete stundenlang am Lieferanteneingang, um ein paar Minuten allein mit Kurt zu erhaschen. Der Familie entgingen unsere flüchtigen Treffen nicht – mein Mann verfügte über wenig Talent zur Lüge –, aber sie konnte nicht das verhindern, was in ihren Augen eine vorübergehende Schwäche war, die es genauso unter den Teppich zu kehren galt wie diesen peinlichen Sanatoriumsaufenthalt.
     
    Als Kurt nach außen hin wieder einigermaßen bei Kräften war, schickte seine Mutter ihn zur Erholung in ein jugoslawisches Heilbad an der Grenze. Den ganzen Sommer über geduldete ich mich eher schlecht als recht in Wien. Fit und zukunftssicher kam Kurt wieder zurück – der Mathematiker Oswald Veblen hatte ihn für eine Vorlesungsreihe am Institute for Advanced Study verpflichtet.
    Louis Bamberger und seine Schwester Caroline Fuld hatten das IAS, eine private Forschungsanstalt, vier Jahre zuvor in Princeton gegründet. Sie waren Philanthropen amerikanischen Schlags. Ihr Kaufhaus hatten sie kurz vor dem großen Börsenkrach 1929 an R. H. Macy & Co . verkauft und mit dem Erlös eine Stiftung gegründet, die sich der reinen Forschung verschrieben hatte. Die Zeiten waren günstig, um Wissenschaftler von den Universitäten Europas abzuwerben, die ganze Intelligenz drängte nach Amerika. In Wien beschränkte sich die Zukunft eines jungen Promovierten auf eine unbezahlte Tätigkeit als Privatdozent. Eine Ingenieurstelle in der freien Wirtschaft konnte Kurt sich nicht vorstellen, darüber lachte er – wenn ihm bei diesem Gedanken nicht direkt übel wurde! Eine Einladung nach Übersee war über die Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit hinaus auch eine Garantie für eine glänzende universitäre Laufbahn und für echte finanzielle Unabhängigkeit. Unsere Trennung war der Obolus, den wir bezahlen mussten.
    Princeton bot eine Chance, die Kurt nicht verpassen durfte. Es war seine Welt, dort sprach man seine Sprache. Wie aufgeregt er wurde bei der Vorstellung, dorthin zu reisen! Doch ich hatte so meine Zweifel. Überseepassagen waren lang und anstrengend, auch auf den Oberdecks. Wie würde er, dieser beklommene Mensch, der schon wegen irgendeiner Nichtigkeit völlig außer sich geriet, im Exil zurechtkommen? In diesem Land und mit diesen fremden Menschen, in dieser Unsicherheit? Er, der nichts mehr fürchtete, als aus dem Trott zu geraten?
    Er versprach mir, wiederzukommen. Er bat mich, nicht zu weinen. Zu warten. Was hatte ich in all den Jahren denn anderes getan? Telegramme waren teuer, Briefe wurden per Schiff transportiert. Ich konnte nichts tun außer warten. Aber wir hatten ja schon eine sehr viel größere Entfernung überwunden, nämlich die zwischen einem Genie und einem Tanzmädel.
     
    Kurz vor Mitternacht hatte ich Feierabend. Ich warf die letzten Trunkenbolde hinaus, ließ den Rollladen herunter, hängte mein Dirndl auf den Kleiderbügel und puderte mir im Licht der Bar

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