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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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dieser Entscheidung: der endgültige Bruch mit ihrem Kindheitsfreund Leonard Adams, der immer der Ansicht gewesen war, dass ihr erstes Mal ihm zustände. Sie hatten oft darüber gesprochen – er wäre zärtlich, und wenn er sich bei anderen Mädchen praktische Übung holte, dann nur, um Anna nicht zu enttäuschen.
    Sie waren zusammen aufgewachsen, sie würden auch zusammen alt werden. Mit fünfzehn Jahren hatte Leo schon alles geplant und den Sack zugebunden: seine glänzende Karriere, ihr Haus, ihre beiden Kinder und ein Arbeitszimmer, wo sie schreiben könnte, was sie wollte, denn er zweifelte nicht daran, dass sie Künstlerin werden würde. Sie hatte keine Lust, seine „abgerundete“ Seelenschwester zu sein. Sie war mehr als ein Axiom. Also hatte sie beschlossen, sich mit John, dem Weiberhelden ihrer Klasse, zu „emanzipieren“. Leo war im Internat gewesen, sie hatte ihm gleich geschrieben und ihm in allen Einzelheiten ihre Erfahrung geschildert – er hatte es sich selbst schließlich nie versagt, das Gleiche mit seinen Eroberungen zu machen. Nach diesem Brief hatte sie monatelang nichts mehr von ihm gehört. Er war überempfindlich, in seinem unglaublichen Gedächtnis speicherte er auch empfundene Beleidigungen. Er konnte einem noch nach Jahren einen kränkenden Satz heimzahlen, nicht ohne ihn in all seinen Bedeutungen analysiert zu haben. Er war nicht bereit gewesen, ihr zu verzeihen, dass sie ihn seines angestammten Rechts beraubt hatte. Frigide Gans? Was wusste sie denn schon, diese verhutzelte Kuh? – Die seit Pearl Harbor kein Mann mehr angefasst hatte! Andere Männer hatten Anna dann die Feinheiten der Sache beigebracht. Keiner, dem es gelungen war, die offensichtliche Barriere ihrer Sprödigkeit niederzureißen, hatte sich je beklagt, dass sie frigide sei. Anna musste ganz im Gegenteil größte Mühe aufbringen, um diese kleinen Krieger wieder loszuwerden, die, kaum hatten sie abgespritzt, nur noch eins wollten: ihre Pantoffeln vor ihrem Bett abstellen.
    Ganz sicher war, dass sie nie etwas kommen sah, sie wurde immer überrascht. Adele Gödel war wie viele andere nur eine verbitterte Frau, die jemanden brauchte, bei dem sie ihren Groll ablassen konnte.
    Ein rosa Schimmern trat in Annas Gesichtsfeld. Sie seufzte – Gladys wäre wahrlich ein rühmlicher Abschluss dieses apokalyptischen Tages!
    „Sie hatten wohl einen kleinen Streit.“
    „Das spricht sich ja schnell herum.“
    „Adele ist ein wenig aufbrausend. Aber sie ist nicht nachtragend. Denken Sie das nächste Mal daran.“
    „Woran soll ich denken?“
    Gladys stemmte ihre altersfleckigen manikürten Hände in die Hüften. Für Anna sah sie aus wie eine geschmacklose Werbung für eine Barbiepuppe im Herbst des Lebens.
    „Sie hat heute Geburtstag. Keiner kam sie besuchen. Abgesehen von Ihrem Blitzbesuch. Man darf nicht vergessen, dass es zweifellos ihr letzter Geburtstag ist. Sie macht sich diesbezüglich keine Illusionen.“
    Anna wurde von einem sehr vertrauten Schuldgefühl überschwemmt. Wie hatte sie, die immer so pingelig war, das vergessen können!? Sie wusste schon, wie es weiterging: In zwei Minuten würde sie Entschuldigungen suchen und in drei Minuten nach einem Weg, dass Adele ihr verzieh.

16.
1936
Das schlimmste Jahr meines Lebens
    „Das mathematische Leben eines Mathematikers ist kurz.
Seine Arbeiten werden nach dem fünfundzwanzigsten
oder dreißigsten Lebensjahr selten besser.
Wenn er bis dahin nichts geleistet hat, wird er
auch künftig wenig leisten.“
Alfred Adler
     
     
    Rudolf betrat als Erster das Zimmer seines Bruders. Ich wartete an der Seite des Mathematikers Oskar Morgenstern, eines sehr engen Freundes von Kurt, dem vorgestellt zu werden ich bislang allerdings noch nicht die Ehre gehabt hatte. Sollte er sich von der Bezeichnung „eine Freundin der Familie“ irregeführt haben lassen, so ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Laut Kurt mit seiner grenzenlosen Neigung zu Misstrauen konnte ich diesem guten, phlegmatischen Mann blind vertrauen.
    „Wie geht es ihm, Fräulein Porkert? Bei unserem letzten Treffen machte er einen so schwachen Eindruck.“
    „Beim Wiegen gestern Morgen hatte er dreiundfünfzig Kilo. Der Herr Doktor hat festgesetzt, dass er bei der Entlassung achtundfünfzig Kilo haben sollte.“
    Ich wagte kaum zu flüstern, so eingeschüchtert war ich von der Vornehmheit des Foyers im Sanatorium. Anna hatte mir viele Klatschgeschichten über die Wiener Berühmtheiten erzählt, die sich in dieser

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