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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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glaubt, dass die Ärzte ihn vergiften wollen. Würden Sie mich bitte nach Purkersdorf begleiten? Er braucht Sie.“
    Mein Vater sagte nichts, er hatte es schon lange aufgegeben, seine verlorene Tochter retten zu wollen. Oben packten meine Schwestern tuschelnd meine Sachen. Meine Mutter half mir zärtlich beim Ankleiden. Das Eindringen der nackten Wahrheit anstelle des üblichen Nichtgesagten hatte mich in eine Puppe mit verrenkten Gliedern verwandelt. In den Augen meiner Familie war Rudolfs Besuch jedoch der Beweis für die Bedeutung, die ich im Leben dessen hatte, über den man nie sprach, dieses Phantoms, das schuld war an meiner Entehrung.
    Rudolf fuhr mich im Wagen zum Sanatorium. Im langen Schweigen auf der Fahrt kam ich wieder zur Besinnung. Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel – die Brüder Gödel waren sich kaum ähnlich, es sei denn in dieser steifen Traurigkeit, die ihr Wesen ausmachte. Erst als wir die Vororte Wiens erreicht hatten, gab Rudolf kurz angebunden ein paar Sätze von sich. Dem „Warum“ und „Wer trägt die Schuld“ wichen wir aus. Wir hielten uns an die Tatsachen, trafen Arrangements: Wer würde sich an welchen Tagen um Kurt kümmern. Worte ohne jedes Gefühl. Kurt hätte die strikte Objektivität unseres Dialogs geschätzt. Man wollte mich den behandelnden Ärzten als eine sehr enge Freundin der Familie vorstellen, um einen Skandal zu vermeiden. Man wollte kein Aufhebens machen, wollte ihn nicht brüskieren. Man wollte lediglich versuchen, diesen letzten, so brüchigen Faden nicht zu durchtrennen. Wir liebten jeweils einen anderen Menschen.
    Rudolf parkte vor der Klinik. Trotz des fahlen Winterlichts strahlte das schneeweiße Gebäude eine unverschämte Gesundheit aus. Mit der Zeit hasste ich seine kleinen geometrischen Friese, diese triumphierende Modernität bei seiner gleichzeitigen Unfähigkeit, das Unwohlsein der Patienten zu kurieren.
    Rudolf rührte sich nicht mehr, seine behandschuhten Hände umklammerten das Lenkrad. Ohne mich anzusehen, sagte er schließlich das, was gesagt werden musste:
    „Ich hätte ihn in Paris abholen sollen.“
    Ich strich ihm am Saum des Handschuhleders über den Streifen aschgrauer Haut. Dieser Mann hier war genauso zerbrechlich, auch wenn er es nicht zeigte. Alle sind so zerbrechlich.
    „Das hätte nichts geändert. Das wissen Sie genau.“
    Er versteifte sich bei meiner Berührung. Ich war eine schlechte Lügnerin – selbstverständlich hätte er Kurt in Paris abholen sollen, aber mehr noch: Er hätte ihn gar nicht erst gehen lassen dürfen.
    „Unsere Mutter weiß nichts von Ihrer Anwesenheit. Kurt ist nicht in der Lage, mit so einer Situation umzugehen.“
    „Ich werde mich darum kümmern. Glauben Sie nicht, dass ich diese Wendung der Dinge für einen Sieg halte, mein Herr.“
    Ich wartete, bis er um den Wagen herumgegangen war und mir die Tür öffnete. Erhobenen Hauptes betrat ich die Klinik – dieses Mal durch den Vordereingang.
    Sein Leben, unsere Geschichte, die Zukunft des Landes – alles war durcheinander. Ich musste in diesem Saustall aufräumen. Wenn wir eine Zukunft haben wollten, musste ich lernen, das Chaos zu zügeln. So bin ich nun mal: Sagt mir, dass ich gebraucht werde, und ich versetze Berge!

15.
    Die Leitung der Seniorenresidenz hatte Adeles Antrag auf Ausgang abgelehnt. Ein Ausflug ins Kino war undenkbar, man schaffte es ja kaum, Missis Gödel ihre Schmerzen erträglich zu machen. Die alte Dame hatte nur noch eine kleine Gnadenfrist. Anna wusste nicht, wie sie ihr die schlechte Nachricht beibringen sollte. Sie hätte ihr am besten erst gar nichts versprechen sollen. Da sie überlastet und mit ihrer Arbeit im Verzug war, hatte sie ihren letzten Besuch abgesagt, um nichts organisieren zu müssen.
    Vor der halb offenen Tür zögerte Anna kurz. Das Zimmer war dunkel, die Vorhänge waren zugezogen. Der Raum war nicht gelüftet worden, der Geruch verursachte ihr Brechreiz. Bevor sie eintrat, setzte sie ein Lächeln auf.
    „Entschuldigen Sie die Verspätung, Adele, ich hatte eine Panne auf dem Weg hierher.“
    Die Gestalt unter den Decken reagierte nicht.
    „Schlafen Sie? Verzeihung.“
    „Sie ermüden mich mit Ihren ewigen Entschuldigungen wegen irgendwelcher Belanglosigkeiten.“
    Mühsam stützte Adele sich auf die Polster. Ihre Lippen waren zusammengekniffen, ihre Augenbrauen streitlustig zusammengezogen. Anna sagte sich, dass sie nicht die Kraft hätte, sich zu zanken, nicht heute Abend, nicht nach all den

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