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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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aus der Nase zu ziehen. Ich werde es niemals zur Gänze erfahren, ich werde nie er sein können. Bis heute kann ich mir seine Not nur vorstellen: Ein Mann steht im trüben Licht eines Hotelzimmers vor dem Bett.
    Ich sehe, wie er seine Sachen zusammen- und wieder auseinanderfaltet, damit seine Hände etwas zu tun haben. Sehe, wie er sie wäscht und sie an den Handtüchern mit dem aufgestickten pompösen Monogramm des Palace Hôtel trocknet. Wie er ins Restaurant hinuntergeht, ein Essen bestellt, das er nicht anrührt. Die Kellnerin ist hübsch. Sie lächelt ihn an. Er schafft es, ein paar Worte auf Französisch mit ihr zu wechseln. Dann geht er wieder auf sein Zimmer, er steigt zu Fuß die Treppe hinauf, weil er die Zeit körperlich messen will. Er konzentriert sich kurz auf die Zimmernummer auf seinem Schlüssel, um darin ein Zeichen zu entdecken. Er öffnet und schließt die Tür wieder und überlegt, ob er diesen Handlungsablauf zum letzten Mal vornimmt. Ob er zum letzten Mal sein Jackett auszieht und sich auf diesen Stuhl setzt. Schwach nimmt er den Geruch seiner Vorgänger im Zimmer wahr, der noch immer in der Luft hängt. Er langt nach seinem Notizbuch. Er schlägt es auf und wieder zu, streicht über den braunen Moleskine -Einband. Er denkt an das Lächeln der Kellnerin. Und in diesem Augenblick denkt er an mich. An unser letztes Zusammentreffen auf dem Bahnsteig. Ganz genau kann er sich nicht an mein Gesicht erinnern, er sagt sich: „Seltsam, wie unmöglich es doch mitunter ist, die vertrautesten Dinge zu beschreiben.“ Er denkt an Hans Hahn. Er denkt an seinen Vater. Dann hat er eine Idee. Er kann sie nicht greifen, sie entgleitet seinem Geist, bevor sie in den Tiefen verschwindet – ein Karpfen an der Oberfläche eines schlammtrüben Tümpels. Hier, auf diesem Stuhl, der ihm in den Rücken drückt, bewegt er sich nicht, um diesen Gedanken nicht zu vertreiben. Er wagt es nicht einmal, sein Notizbuch aufzuschlagen. Er hat die Idee, dass die Idee möglicherweise noch greifbar ist, wenn er reglos verharrt. Wenn er nicht in dem undurchsichtigen Wasser rührt. Er erinnert sich an unseren letzten Streit, an meine harten Worte, Worte, die man einem Mann wie eine Ohrfeige versetzt, wenn er nicht mehr atmet. „Du bist ein Mann, verdammt noch mal! Iss! Schlafe! Vögle!“ Er weiß nicht, wie lange er schon auf diesem Stuhl sitzt. Sein Rücken erinnert ihn an die vergangenen Stunden, und er mag diesen Schmerz. Am frühen Morgen schließt er das Fenster und packt seinen Koffer.
    Er, der ein ganzes Leben gebraucht hatte, um sich umzubringen, hätte seine Qualen in Paris abkürzen können. Niemand hätte ihn dort daran gehindert. Aber er kam nach Wien zurück und ging aus freien Stücken ins Sanatorium. Weder meine Liebe zu ihm noch die Liebe seiner Mutter erklärten diese Entsagung, sein Glaube noch viel weniger. Er musste auf Befehl einer anderen, sehr viel stärkeren Natur gehandelt haben: ein letztes Aufbäumen des Körpers gegen seinen kannibalischen Geist.
    Vielleicht bin ich dazu verdammt, dort eine Dualität zu sehen, wo es nie eine gegeben hat.
     
    Eines Morgens im Januar 1936 sah ich Bruder Rudolf durch den Wust von Auslagen im Schaufenster meines Vaters. Ich dachte: Kurt ist gestorben. Aus welchem anderen Grund hätte er sich herabgelassen, zu mir zu kommen? Seit Kurts katastrophaler Rückkehr existierte ich nur noch in Klammern, nachdem er in Purkersdorf unter strenger Isolation stand. Nicht einmal Anna konnte mir noch helfen. Die wenigen Informationen, die ich von seinen Krankenschwestern aufschnappte, waren erschreckend. Er verweigerte jede Nahrung und schlief den ganzen Tag, völlig benommen von den Medikamenten. Ich wagte nicht, mir die beiden einzigen Möglichkeiten einzugestehen, die es gab: Entweder ich wartete auf einen internierten Mann ohne Hoffnung auf Heilung oder ich wurde Witwe ohne das Recht, meine Trauer zu zeigen. Ich konnte nicht einmal davonlaufen. Ich konnte bei diesem Verfall einfach nur zusehen.
    Ich setzte mich hin und schloss die Augen. Ich hörte das piepsige Türglöckchen, dann den sachlichen Gruß, den Rudolf an meinen Vater richtete. Reglos wartete ich auf den Urteilsspruch.
    „Fräulein Porkert? Kurt möchte Sie sehen.“
    Rudolf hatte sich der äußersten Mühe unterzogen und Kontakt mit mir aufgenommen – wenn Kurt also noch nicht tot war, dann war er jedenfalls nicht mehr weit davon entfernt.
    „Es geht ihm extrem schlecht. Er weigert sich, etwas zu sich zu nehmen. Er

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