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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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projizierte meine Ängste auf die amerikanischen Beamten, die alles taten, um mir das Leben schwer zu machen. Kurt ging währenddessen unerschütterlich seinem Alltag nach.
    Seine endlich erfolgte Ernennung zum permanenten Mitglied des IAS mit einem Jahresgehalt von 6000 Dollar – das Doppelte des damaligen Durchschnittseinkommens in den USA – verschaffte uns ein wenig Luft. Zusätzlich hatte man ihm eine Pension von 1500 Dollar im Fall gesundheitlicher Probleme oder bei Berufsunfähigkeit zugesichert. Wir konnten uns an diese letzte Rettungsboje klammern, dennoch war unser Wohlstand sehr relativ, nachdem die Gallone Milch, also knapp vier Liter, siebzig Cent kostete und eine Briefmarke drei. Die Pension zeugte in erster Linie von der Sorge der Institutsleitung, Kurt könne auf lange Sicht nicht voll arbeitsfähig sein. Dass er keinen Professorentitel hatte, kam ihm bestens zupass.
    „Morgenstern findet, dass es dir gut tun würde, wieder zu unterrichten. Wenn ich weg bin, siehst du sonst gar niemanden mehr.“
    „Ich werde mich schon um ihn kümmern, Adele. Machen Sie sich keine Sorgen.“
    „Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen!“
    Ich wechselte einen einverständigen Blick mit Albert. Er beruhigte mich mit einem Lächeln.
    „Gehen wir – ich muss einen höllisch verspäteten Brief aufgeben, und diese verdammte Journalistin wird mich um meinen Mittagsschlaf bringen! Vielleicht finde ich vor dem Abendessen noch Zeit, um ein wenig Physik zu betreiben.“
    Wir gingen zügig die Mercer Street hinauf. Es war ein angenehmer Spaziergang an diesem lauen Frühherbstmorgen, vorbei an Häusern in baumbestandenen Gärten. Die beiden gingen jeden Morgen zur selben Stunde denselben Weg. Was als eine Beziehung zwischen brillanten Kollegen am Institut begonnen hatte, war innerhalb von vier Jahren zu einer so gewohnheitsmäßigen wie auch notwendigen Freundschaft geworden. Kurt stand spät auf, er maß seine Temperatur und trug sie in ein kleines Notizbuch ein. Dann nahm er einen Haufen Pillen ein, trank einen dünnen Kaffee, bürstete seine Kleider, polierte seine Schuhe und zog sich schließlich an, um pünktlich vor Einsteins Tür zu erscheinen. Sie kamen auch zusammen zurück, manchmal zum Mittagessen, meist jedoch erst nach dem heiligen „Institutstee“. Ich respektierte diesen Tagesablauf, denn er nahm dem zerbrechlichen Gemüt meines Mannes die Spitzen.
    Unsere Schritte ließen den üppigen roten Teppich auf dem Gehweg rascheln. Princeton war eine Stadt des Herbstes, eine Stadt, wo man schöne Verdauungsspaziergänge machen konnte. Meine Begleiter schwiegen – meine Anwesenheit störte sie in ihrer Gehirnakrobatik. Der gutmütige Albert übernahm es, mich in das Gespräch mit einzubeziehen.
    „Haben Sie sich wieder von Ihrem Schrecken erholt, Adele? Darf ich Sie dann wieder einmal zu einer Bootsfahrt mitnehmen?“
    „Mit allem gebührenden Respekt, Herr Einstein – nie wieder! Ich hatte solche Angst!“
    „So unerschrocken, wie Sie sind?“
    „Aber ich bin nicht lebensmüde. Ich kann nicht schwimmen.“
    „Ich auch nicht. Eine Spazierfahrt auf dem ruhigen See ist doch keine Umrundung von Kap Hoorn!“
    Sonntags zuvor hatten wir eine Einladung zu einem Segeltörn angenommen. Wir hatten zahlreiche Anekdoten über die genauso zahlreichen Kenter-Trips des Gelehrten gehört. Mein Mann zögerte zwar, wagte es aber nicht, abzulehnen. Also gingen wir an Bord, beschwichtigt von der glatten Oberfläche des Sees. Die beiden Männer waren schnell in eine angeregte Diskussion vertieft, ich entspannte mich auf dem ruhigen Wasser und hielt mein Gesicht in die heitere Septembersonne. Plötzlich nahm ich im Halbschlaf einen Schatten wahr – ein Boot kam mit Karacho auf uns zu. Albert schien es nicht gesehen zu haben, ich schrie: „Achtung!“ Im letzten Moment riss er das Ruder herum. Ganz bleich klammerte Kurt sich ans Schandeck, während sein älterer Freund lachte wie ein Kind.
    „Am Abend nach dem Vorfall schmerzte mein Magengeschwür ganz schrecklich. Übrigens, Adele, du musst auf dem Rückweg wieder Magnesiamilch besorgen. Ich habe fast keine mehr.“
    „Schon wieder? Du badest ja darin!“
    „Sie sollten besser zum Arzt gehen, Gödel, als sich selbst Arznei zu verordnen.“
    „Ärzte sind größtenteils Quacksalber. Ich habe die Situation unter Kontrolle.“
    Einstein knetete ihm die Schulter.
    „Gönnen Sie sich eine Pause, mein Freund. Machen Sie Ferien mit Adele. Auch sie hat einen Urlaub

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