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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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hatte die Dosis erhöht, um gutwillig zu erscheinen. Im fahlen Tageslicht sah sie aus wie ein Leichnam, den ein Einbalsamierer geschminkt hatte. Warum hatte sie den Eindruck, bei jedem Besuch verurteilt zu werden? Dabei war es doch jedes Mal wie ein Tag am Meer – Annas Muskeln waren danach ausgelaugt, ihr Kopf war klar, bis sich dann in der nächsten schlaflosen Nacht alles wieder trübte.
    Am Abend zuvor hatte sie ihre Turnschuhe betrachtet, die sie seit Monaten nicht mehr getragen hatte. Sie müsste wieder Sport treiben – sie fühlte sich nicht mehr wohl in ihrem Körper, der dem einer alten Frau glich. Die Katze hatte ihr einen mitleidigen Blick zugeworfen, bevor sie auf dem Sofa weitergeschlafen hatte. Anna hatte den Schrank zugemacht und sich zu ihr gelegt. Wenn es so etwas wie diese verdammten Daseinsstufen geben sollte, dann war das Leben einer Katze die höchste Form.
     
    „Kommen Sie rein!“ Anna hatte noch nicht einmal angeklopft, da hatte Adele Gödel sie schon an ihrem Schritt erkannt. Die alte Dame zog an ihrer Decke herum und kümmerte sich nicht um den kühlen Luftzug, der die Jalousien klappern ließ.
    „Wo waren wir stehen geblieben?“
    „Darf ich zuerst meine Jacke ausziehen?“
    „Gut so, sie ist grauenvoll.“
    Die junge Frau schloss das Fenster. Der Stuhl war weit vom Bett weggerückt worden, sie setzte sich, ohne ihn heranzuschieben, mit neutraler Miene und aufrechtem Rücken.
    „Elizabeth und Gladys interessieren sich sehr für Ihren Fall. Ausnahmsweise sind wir uns in einem Punkt einig: Sie brauchen einen Mann.“
    Anna unterdrückte ein Lachen und verfluchte sich, weil sie sich so schnell aus der Reserve locken ließ.
    „Wir schreiben das Jahr 1980, Adele. Die Welt hat sich weiterentwickelt.“
    „Damit man keine Nabelschau betreibt, muss man einen anderen finden, den man ansehen kann. Und etwas Besseres als einen Burschen hat man dafür bisher noch nicht aufgetrieben.“
    „Ich brauche niemanden.“
    „Jetzt stellen Sie mal eine Weile Ihren Stolz hintan. Wir sind unter Frauen. Ein schöner Orgasmus rückt einem den Kopf immer zurecht.“
    Anna legte die Hände flach auf ihre Knie, sie wollte keinerlei Emotionen zeigen. Sie wusste, dass Adele empfindlich auf Schweigen reagierte.
    „Meinen Sie, vor 1960 hat es keinen Orgasmus gegeben? Dass die sexuelle Befreiung, wie man so schön sagt, die Lust der Frau erfunden hat?“
    „Halten Sie mich für prüde?“
    „Gefühlsmäßig sind Sie prüde. Ich schäme mich für nichts mehr. Wem gegenüber sollte ich mich verantworten, wenn nicht gegenüber meinem Gott? Und eine persönliche Nachricht in diesem Sinne hat er mir nicht geschickt. Seit wann haben Sie keine Lust mehr empfunden?“
    „Ich soll Ihnen erzählen, wann ich mich zum letzten Mal vögeln ließ, um Ihnen in Ihrer sexuellen Enthaltsamkeit pikante Details zu liefern? Vergessen Sie’s!“
    „Mit wem sonst können Sie darüber sprechen? Mit einem Psychologen? Er wird undurchsichtige Beziehungen zu Ihrem Vater und Rivalitäten mit Ihrer Mutter hervorzerren – das ganze Programm. Das lohnt sich auf keinen Fall. Wenn Sie mit mir reden, könnten Sie zumindest aus meinen Fehlern lernen. Ich habe keine Zeit mehr für den schönen Schein.“
    Anna widerstand nur mit Mühe dem Impuls, diese neugierige Alte einfach sitzen zu lassen.
    „Sie wollen mich also jetzt erpressen.“
    „Jeder Hebel ist gut. Geben Sie mir etwas – ich denke, ich habe Ihre Dokumentation schon ausreichend genährt.“
    Anna wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. Sie kramte in ihren intimen Erinnerungen nach solchen, die sie Adele zum Fraß vorwerfen könnte. Stand das nicht seit ihrem ersten Zusammentreffen an? Ein Leben gegen ein anderes Leben. Letztendlich hatte sie bislang nur wenig von ihrer Schuld bezahlt.
    Mit dreiundzwanzig Jahren hatte Anna versucht, aus ihrer geradlinigen Bahn auszubrechen. Sie hatte William verlassen und war nach Europa gegangen. Alle waren völlig verblüfft gewesen und hatten diese Flucht einer verspäteten Dekompensation nach dem Tod ihrer heiß geliebten Großmutter zugeschrieben. Nur Rachel hatte darin einen Beweis für ein Aufbäumen gesehen, für das Erbe ihres eigenen Temperaments. Es war ihr unmöglich, bei ihrer Tochter eine psychische Schwäche zu akzeptieren, denn das wäre einem Versäumnis in ihrer Erziehung gleichgekommen. Anna hatte zuvor nie Zeichen einer Depression gezeigt, manchmal war sie sicherlich ein wenig zu still gewesen, aber in ihren Kreisen

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