Die Göttin der kleinen Siege
konnte Verschwiegenheit als ein Merkmal von Eleganz durchgehen.
Anna hatte die beiden Familien das Hochzeitsaufgebot annullieren und sie die Geheimnisse ihres Charakters zerpflücken lassen. Keiner wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie aus purer Eifersucht weggegangen war. Sie wagte ja selbst kaum, es sich einzugestehen. Am Tag ihrer Verlobung war Leo zu vorgerückter Stunde in Begleitung eines außerirdischen Wesens aufgetaucht – eines dieser Mädchen, bei denen man wieder und wieder die endlose Liste ihrer Vorzüge durchgeht, um doch noch einen Makel zu finden. Sie hatte keinen. Medizinstudentin auf dem Fachgebiet Neurochirurgie, zum Zeitvertreib Model. Anna hatte ihr nicht den Hauch von Herablassung nachsagen können, als sie ihr gratuliert hatte, das Mädchen hatte Freundlichkeit und gute Laune ausgestrahlt. Leo hatte Anna seiner hinreißenden Begleiterin als „Sandkastenfreundin“ vorgestellt. Anna hatte sich betrunken und sich am Ende des Abends erbrochen, während William ihr die Haare gehalten hatte, damit sie ihr Cocktailkleid nicht besudelte. Als am frühen Morgen endlich auch die letzten Gäste abgezogen waren, hatte sie ihm kurzerhand den Laufpass gegeben. Auch sie konnte mit dem Skalpell umgehen.
„Ich bin kein hoffnungsloser Fall, Adele. Ich war sogar einmal verlobt. Aber es hat nicht funktioniert. William war zu nett, um es so zu sagen.“
„Wie Sie.“
Anna lächelte – „nett“, das war sie bestimmt nicht.
„Ich habe noch in der Nacht unserer Verlobung mit William gebrochen. Am nächsten Tag habe ich das Geld lockergemacht, das meine Großmutter mir hinterlassen hatte, und das erste Flugzeug nach Europa genommen.“
Adele hatte sich zu ihr vorgebeugt und sog diese geflüsterten Vertraulichkeiten in sich auf.
„Innerhalb von drei Jahren habe ich alles auf den Kopf gestellt. Es war das Geld von Toten. Das Erbe meiner Onkel, meines Großvaters. Es sollte nicht zum Kauf eines Häuschens im Grünen verwendet werden.“
„Kommen Sie doch näher. Meine Ohren sind nicht mehr das, was sie mal waren.“
Anna schob den Stuhl zum Bett. Sie zog die Schuhe aus und massierte ihre Füße. Adele reichte ihr eine Decke, Anna kuschelte sich hinein.
„Als ich zurückkam, war ich abgebrannt. Ich hatte mein Studium nicht abgeschlossen. Niemand war da, an den ich mich wenden konnte. Meine Mutter sprach nicht mehr mit mir, mein Vater nahm mich vorübergehend auf und setzte sich bei seinem alten Freund Adams dafür ein, dass ich einen Job bekam. Er hatte es eilig, mich loszuwerden, er war mitten in seinen Flitterwochen.“
„Und danach? Keine anderen Männer?“
„Menschen im Allgemeinen langweilen mich schnell. Ich muss jemanden bewundern können.“
„Sie sind vielleicht zu sehr vom Verstand gesteuert, meine Hübsche.“
„Haben Sie Ihren Mann bewundert?“
„Ha, da wären wir ja wieder beim Thema!“
„Mein Leben ist absolut banal. Nun sind Sie an der Reihe, Adele.“
Adele schwieg kurz, dann nahm sie einen Silberrahmen vom Nachtkästchen und wischte mit dem Ärmel darüber. Anna sah das Hochzeitsfoto an, wagte aber nicht zu sagen, dass sie es schon kannte.
„Ich bewunderte ihn so, wie man fasziniert von etwas ist, das zu hoch für einen ist. Aber verliebt habe ich mich nicht in seine Intelligenz.“
„Sie müssen in all den Jahren – weit weg von Ihrer Familie – sehr unter seiner Krankheit gelitten haben.“
Adele riss ihr das Foto aus der Hand. „Sie haben noch nie richtig geliebt!“
Anna erinnerte sich, dass sie einmal gelesen hatte, Erinnerungen seien nicht die Vergangenheit selbst, sondern das Andenken an die Vergangenheit. Auch die Geschichte des Paares Gödel war weder so einfach noch war ihre Verbindung so absolut gewesen. Adele glaubte vielleicht, sie hätte als Einzige ein Anrecht auf Leidenschaft – das Monopol auf Opferbereitschaft besaß sie auf jeden Fall. Aber wozu sollte Anna ihr diesen letzten Trost verweigern? Die alte Dame mit dem fernen Blick wirkte entkräftet. Mit zwei zitternden Fingern zeichnete sie eine liegende Acht. An der anderen Hand schnitt sich der viel zu kleine Ehering in ihr Fleisch.
„Ich lasse Sie nun schlafen.“
„Apropos Liebe, junge Frau – wann nehmen Sie mich mit ins Kino, damit ich mir eine schöne Schnulze ansehen kann?“
„Das wird die Heimleitung nie erlauben.“
„Ich habe zwei Kriege überlebt. Kommt gar nicht infrage, dass ich vor einem Weißkittel kusche! Lassen Sie sich etwas einfallen. Verstehen Sie es als
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