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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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therapeutische Maßnahme. Gehen Sie einem Konflikt nicht mehr aus dem Weg, meine Kleine. Wohin man auch geht, man schleppt immer sein Gepäck mit sich. Diesen Spruch werde ich Ihnen zu Weihnachten sticken.“

30.
1946
Exkurse beim Spaziergang
Aufbruch
    „Ich gehe nur noch ins Institut, um das Privileg zu haben,
mit Kurt Gödel den Heimweg antreten zu können.“
Albert Einstein
     
     
    Als Kurt Gödels Armbanduhr punkt zehn Uhr zeigte, klingelte er in der Mercer Street 112. Die bekannteste Adresse unter den Taxifahrern von Princeton war ein kleines Haus im spätviktorianischen Stil, sehr bescheiden im Vergleich zum weltweiten Ruhm seines Besitzers. Ich wartete hinter der Buchsbaumhecke, die den Garten zur Straße hin abgrenzte. An einem Fenster im Obergeschoss tauchte ein wilder Haarschopf auf, kurz darauf erschien Albert Einstein an der Tür. Er trug einen alten Pullover über einer ausgebeulten Hose und seine ewigen Ledersandalen über zwei verschiedenen Socken. Seine Sekretärin fing ihn auf der Schwelle ein.
    „Ihre Aktentasche, Herr Professor! Eines Tages werden Sie noch Ihren Kopf vergessen.“
    „Was würde ich ohne Sie machen, meine gute Helen?“
    „Ich habe Ihre dringend zu erledigende Post in zwei Fächer sortiert. Das eine trägt die Aufschrift verspätet , das andere zu spät . Was nicht heißt, dass Sie nicht antworten dürfen. Und versäumen Sie nicht absichtlich Ihr Mittagessen mit der Journalistin!“
    „Verflixt und zugenäht, Dukas! Sie sollen mich doch vor all diesen Blutsaugern schützen!“
    „Nicht vor dieser Frau, sie ist von der New York Times . Sie werden um 13 Uhr erwartet.“
    „Sie kommen doch sicherlich mit zu uns, Gödel?“
    „Ich glaube nicht. Ich esse wegen Adele ohnehin schon zu viel. Je weniger ich zu mir nehme, desto besser geht es mir.“
    „Es gibt für alles eine Grenze, mein Freund! Dukas, sagen Sie der Köchin, sie soll noch ein Gedeck auflegen!“
    Er drehte sich um und bemerkte mich.
    „Adele! Was verschafft mir die Ehre dieses so ungewöhnlichen Besuchs?“
    „Ich gehe heute mit euch. Ich muss im Institut einige verwaltungstechnische Fragen klären. Diese verfluchten Beamten machen mich noch verrückt.“
    „Dann steht Ihre Reise nach Europa also kurz bevor?“
    Kurt öffnete das Gartentor. Er konnte es nicht erwarten, sich auf den Weg zu machen.
    „Wenn meine Frau es sich in den Kopf gesetzt hat, die Beamten zu beschimpfen, bezweifle ich, dass sie überhaupt je fahren wird!“
    „Du kümmerst dich ja nie um diesen Behördenkram, also weißt du auch nicht, wie nervtötend das ist.“
    Einstein wühlte mit seinen mir mittlerweile vertrauten Gesten in seinen Taschen – er suchte seine Pfeife.
    „Die Bürokratie bedeutet den Tod jeder Initiative.“
    „Adeles Geschrei könnte allerdings Tote wecken!“
    „Sie versuchen sich in Humor, Gödel?“
    „Er ist heute mit dem richtigen Fuß aufgestanden.“
    „Die Existenzsicherheit tut Ihnen gut. Sie sind ja nun permanentes Mitglied des Instituts und können der Zukunft gelassener entgegensehen.“
    „Vorausgesetzt, Adele lässt mich in Ruhe arbeiten.“
    „Hör auf, dich zu beklagen. Wenn ich endlich weg bin, hast du königliche Ruhe!“
    Seit der Kapitulation Deutschlands erfüllte mich die Aussicht, nach Europa zurückzukehren, mit neuem Leben. Im Juni 1945 hatten wir Nachricht von den Gödels bekommen, etwas später von meiner Familie. Marianne in Brünn und Rudolf in Wien hatten die Bombardements überlebt. Kurts Pate Friedrich Redlich war in der Gaskammer gestorben. Mein Vater war tot, meine Schwester war tot. Zusammen mit den alten Erinnerungen steckte ich meinen Schmerz weg, tief unter die warme Decke der Schuldgefühle, die ich als Überlebende verspürte. Während all dieser Jahre des Schweigens hatte ich Zeit gehabt, mir das Schlimmste auszumalen. Und das Schlimmste war eingetreten. Meine Mutter war allein zurückgeblieben und lebte in bitterer Not. Die seltenen Briefe, in denen sie mir ihr Elend schilderte, waren von der Zensur geschwärzt. Immer wenn ich konnte, schickte ich ihr ein bisschen Geld. Ich mühte mich ab, eine Überfahrt zu organisieren, damit ich sie besuchen und ihr helfen könnte. Doch nach der Unsicherheit nagte nun die Unruhe über diese verhängnisvollen Nachrichten an mir. Ich hatte mich von einer Blinddarmoperation nur schlecht erholt und befand mich in einem miserablen Zustand. Ich hatte abgenommen, meine Zähne lockerten sich, die Haare fielen mir büschelweise aus. Ich

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