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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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stehen wir unter dem Joch der Armee.“
    „Gödel, inwiefern könnten Ihre mathematischen Fragestellungen die Regierung interessieren? Seien Sie doch vernünftig! Ich würde Ihre Ängste verstehen, wenn Sie in Los Alamos dabei gewesen wären.“
    „Sie können sich nicht vorstellen, in welchem Maß ich überwacht werde. Es geschehen seltsame Dinge. Roosevelts Tod ist ganz besonders verdächtig.“
    Albert beschleunigte seinen Schritt. Wir bogen in die Maxwell Lane ein. Hinter dem Hain sahen wir von Weitem die Fuld Hall aufragen. Der Bau aus rotem Ziegelstein thronte am Ende eines weitläufigen Rasens. Ich war schon zu Bällen in diesem Gebäude gewesen, aber nie beim intimen Zeremoniell des Wissenschaftsalltags. Alle Gattinnen wussten, wo sie ihre Männer fanden, wenn die Uhr an dem altertümlichen Dachreiter 16 Uhr schlug. Sie tranken Tee.
    Ich ließ die zwei Männer am Fuß der Treppe allein, ihre Büros lagen in der zweiten Etage.
    „Bis später. Mach’s gut.“ Wäre sein illustrer Freund nicht gewesen, hätte ich meinem kleinen Scholaren einen Kuss auf die Wange gedrückt und ihm einen schönen, kleinen Klaps auf den Hintern gegeben. Schon aus Prinzip.

31.
    Der Radiowecker grölte Breakfast in America . Anna hatte vergessen, ihn auszustellen. Und dabei hatte sie ausnahmsweise durchschlafen können! Schweißgebadet rollte sie auf die trockene Seite des Lakens und stellte das Radio ab. Ganz dunkel konnte sie sich an einen unangenehmen Traum erinnern. Sie setzte sich auf die Bettkante. Ihr platzte der Kopf, der Schmerz tilgte noch die letzten Bruchstücke des Traumes. Am Abend hatte sie sich noch einmal die Risiken einer Spritztour mit Adele durch den Kopf gehen lassen. Die Flasche Weißwein hatte den Abend nicht überlebt.
    Von Kindesbeinen an besaß Anna die Fähigkeit, sich alle Eventualitäten einer Situation vor Augen zu führen, auch ihre Sackgassen. Es war kein Symptom von Pessimismus, schlechte Optionen waren schließlich Teil des großen Ganzen, aber diese Gabe erwies sich als unvereinbar mit der Leichtfertigkeit, die für ein unbeschwertes Leben vonnöten war. Sie hatte keinen entsprechenden Beruf finden oder dieses analytische Talent zu Geld machen können. Das Leben mit alten Papieren befreite sie zumindest von dieser Last: das ermüdende Auflisten aller Möglichkeiten.
    Sie hatte sich sehr inkonsequent verhalten, als sie diese Idee aufgebracht hatte: Morgen würde sie trotz des Verbotes der Ärzte mit Adele ins Kino gehen. Anna hatte in Doylestown in der Nähe der Seniorenresidenz das County Theater entdeckt, wo der Spielfilm The Sound of Music in der Nachmittagsvorstellung lief. Der Film dauerte über drei Stunden, und nach zehn Minuten Fahrt – oder zwanzig, wenn man alle Unwägbarkeiten mit einrechnete – wäre Adele pünktlich zum Abendessen wieder in Pine Run .
    Die Hauptschwierigkeit bestände darin, klammheimlich das Gebäude zu verlassen. Während der Mittagsruhe würde sie ihre Komplizin zu einem langen Spaziergang im Park ausführen. Sie würde den Wagen hinter dem Anwesen parken, neben einer kleinen Tür, die unter Efeu versteckt war. Sie hatte Gladys damit beauftragt, das Personal von Adeles Zimmer fernzuhalten. Barbie senior war begeistert, dass sie an diesem kleinen Komplott mitwirken durfte. Nun musste sie nur noch die lästige Installation der alten Dame im Wagen und danach im Kinosessel bewerkstelligen. Adele hatte das Problem gelöst, indem sie Anna ihre relative Beweglichkeit auf drei Beinen bewiesen hatte. Gladys hatte ihrer Nachbarin, die im Koma lag, den Gehstock stibitzt. Jack, der Klavierspieler, war ins Vertrauen gezogen worden und würde auf dem Hin- und auf dem Rückweg beim Gang zum Auto helfen. Aber wie sollte Anna der Polizei, den Ärzten und auch ihrem Institutsleiter den verrückten Plan erklären, sollte Frau Gödel ihr unter den Fingern wegsterben? Man würde sie beschuldigen, ihren Tod beschleunigt zu haben.
    Anna nahm ein Buch vom Nachtkästchen. Die Zeilen tanzten vor ihren Augen. Heute Morgen wirkte der Charme von Zimmer mit Aussicht nicht. Ihr ruheloser Geist wanderte zum Arno, nach Florenz und vor allem zu Gianni.
    Nach ihrem harschen Bruch mit William war sie in Frankreich, Deutschland und Italien umhergereist. Sie war erstaunt gewesen, dass ihr dieses Vagabundenleben ohne Reiseleiter und ohne Rückreiseticket gefiel. Als einziges Zugeständnis an die Vergangenheit hatte sie regelmäßig an Ernestine geschrieben und es nie versäumt, Leos ehemaligem

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