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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Kindermädchen ihre jeweils neue Adresse mitzuteilen. Doch Leo hatte ihr nie geschrieben. In Florenz hatte sie sich zu einem astronomischen Preis eine alte Baedeker- Ausgabe geleistet, einen veralteten Reiseführer, von dem sich Edward M. Forsters Protagonistinnen, die Anna so liebte, nie trennten. Der abgewetzte rotgoldene Einband und die vergilbten Seiten hatten ihr das Gefühl gegeben, mehr noch in der Zeit als nur im Raum zu reisen. Ausnahmsweise war sie dem Eindruck erlegen, nicht das zu tun, was man von ihr erwartete.
    Eines Tages, sie hatte wegen der endlosen Warteschlange darauf verzichtet, die Uffizien zu besuchen, hatte ein Mann, den ihre Wut amüsierte, sie angesprochen und ihr seinen Sonderausweis angeboten. Italien bekam Anna gut, und sie wusste es. Sie war dem Fremden gefolgt, gelockt von dem Angebot, ihr die Archive zu zeigen, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. Danach hatten sie sich nicht mehr getrennt. Gianni entstammte einer sehr alten Florentiner Familie, er war Experte für die Malerei des 15. Jahrhunderts und kannte die Stadt wie seine Westentasche. Mit ihm war jeder Spaziergang zur Überraschung, jedes Essen zum Fest geworden, und der Sex war lustvoll gewesen. Als ihre Ersparnisse aufgebraucht waren, hatte er ihr angeboten, dass sie bei ihm wohnen könne und er für ihre Ausgaben aufkäme. Der Umzug war ganz selbstverständlich vonstatten gegangen, ohne Druck und ohne Drängen. Gianni war ohne jeden Zynismus, er hatte viele Freunde und wenig Hang zur Selbstbeschau, er war ein stiller Genießer. Mit ihm war das Leben leicht erschienen, ohne fade zu sein. Um sich nicht gänzlich ausgehalten vorzukommen, hatte Anna ein paar Übersetzungsaufträge angenommen. Dann hatte sie ihre Schuldgefühle begraben und sich von diesem annehmlichen Leben einlullen lassen, das im Takt gelehrter Gespräche und Wochenenden am Meer dahinfloss.
    Mit Gianni war es ihr fast gelungen, die junge Frau zu vergessen, vor der sie geflohen war – intelligent, ohne gewitzt zu sein, nicht hässlicher und auch nicht hübscher als die anderen. Ein Leben ohne echte Tragödien. Aber auch ohne große Höhenflüge. Sie hatte sich nie mit diesem Becken voll lauwarmem Wasser zufriedengegeben.
    Heute musste sie zugeben, dass sie in dieser kurzsichtigen Revolte auf den Holzweg geraten war. Sie hatte nichts erreicht, nichts gelöst. Sie war Touristin in ihrem eigenen Leben gewesen. Es war ihr nur leichter gefallen, alle Brücken hinter sich abzubrechen, als ihre Mittelmäßigkeit zu akzeptieren. Vielleicht forderte sie ungestraft ihr Schicksal heraus, indem sie sich eines erbettelte. Irgendwann würde ein schreckliches Unglück dafür sorgen, dass sie diese süße Gaußsche Langeweile bereute.

32.
1946
Exkurse beim Spaziergang
Rückkehr
    „In der Physik versuchen wir, etwas, das vorher niemand gewusst hat, mit Zeichen zu sagen, die jeder versteht.
In der Dichtung ist es genau umgekehrt.“
Paul Dirac
     
     
    Das stille Hauptgebäude des IAS wurde plötzlich von mechanischen Schwingungen belebt – Stühle scharrten laut über den Boden, Türen wurden aufgerissen, Getrampel in den Gängen. Die Herren Gelehrten legten die Kreide oder das Telefon weg und gingen schnell zum Mittagessen – wie alle Menschen zur selben Zeit. Ich hatte meinen Vormittag mit den Angestellten des Sekretariats vergeudet, war aber im Englischen nicht beschlagen genug, um ohne ihre Hilfe mit den behördlichen Winkelzügen zurechtzukommen. Sobald diese Schikanen überwunden wären, müsste ich im Rahmen meiner Mittel eine Schiffspassage nach Deutschland oder Frankreich finden, dann einen Zug nach Wien – alles in einem Europa, von dem die Zeitungen Tag für Tag ein apokalyptisches Bild zeichneten. Die Ausreise ging verhältnismäßig einfach vonstatten, danach musste man aber wieder zurückkehren können, und unsere Reisepässe waren noch immer deutsch.
    Ich wusste, dass mein Mann es nicht leiden konnte, wenn ich ins Institut kam. Ich wartete, bis er mich offiziell aufforderte einzutreten, bevor ich sein Büro betrat. Konzentriert und taub gegenüber seinem knurrenden Magen, stand er vor seinem schwarzen Schreibtisch.
    „Du bist gar nicht bei Herrn Einstein? Sollen wir dann gemeinsam essen?“
    Er fuhr zusammen. Er war so berechenbar! Ich hoffte, ihn zu einem Essen mit Einstein eilen zu sehen, denn in Alberts Präsenz hätte er sich nicht getraut, die Nahrung zu verweigern.
    „Oder soll ich mit euch beiden kommen?“
    „Das ist unangebracht,

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