Die Göttin im Stein
Eraiox grinste, trank, kratzte sich auf der Brust. »Oder doch siebenunddreißig?« grübelte er dann und rutschte von der Bank, blieb am Boden liegen.
»Zu lange«, sagte Daios. »Es dauert zu lange, ehe sie erwachsen sind. Und viele sterben. Seht ihr nicht, daß es bei den Bauern Knaben im besten Alter gibt, starke Knaben im Übermaß, wohl fähig, die Ausbildung zum Wolfskrieger zu überstehen?«
Sein Herz ein Trommelwirbel.
»Knaben?« fragte er leise.
Daios lachte. »Mit ihren eigenen Söhnen, was für ein Witz,
mit ihren eigenen Söhnen könnten wir sie unterjochen!« Die Söhne der Bauern. Die Söhne des Alten Volkes. Ihm schwindelte bei dem Gedanken.
»Und«, er stockte – das ist es, warum habe ich es nicht selbst gesehen – »und es wäre nicht gegen den Willen der Himmlischen? Der göttliche Krieger würde diese Knaben nicht mit Verachtung von sich weisen, uns für solche Zumutung strafen?«
»Strafen? Weil wir ihm Knaben bringen, nach denen sein Herz verlangt? Wer ist betrunken, du oder ich, Lykos? Trink, Freund, trink, auch das gefällt dem göttlichen Krieger, aber Knaben, Knaben noch viel mehr ...« Daios trank.
»Aber – wenn es mißlänge?« fragte Lykos und schenkte Daios nach. »Wenn wir uns mit ihnen wahrhaft gefährliche Gegner heranzögen?«
Daios formte die Worte nur noch mit großer Mühe. Dennoch gelang es ihm, Verachtung in seine Stimme zu legen: »Warst du ein Wolfskrieger, oder hast du deine Jugend auf dem Schoß deiner Mutter verbracht, Lykos?« Lykos fuhr auf –welch eine ungeheuerliche Beleidigung –, doch dann beherrschte er sich. Wichtigeres galt es jetzt.
»Hast du die Prüfungen durchlitten, ohne etwas zu begreifen?!« fuhr Daios mit schwerer Zunge fort. »Du kennst doch die unwiderstehliche Kraft der Todesangst! Das ist etwas, das bei jedem wirkt. Auch bei einem verzogenen, aufsässigen Bauernlümmel! Denk nur an die Pfeilprüfung!« Daios kicherte.
»Die Pfeilprüfung«, wiederholte er selbst langsam, und es schauderte ihn unwillkürlich – wie mußten diese und andere Prüfungen auf ahnungslose Knabenherzen wirken, die noch nichts wußten von der tödlichen Stärke des göttlichen Kriegers, die nicht durch die harte Erziehung eines wissenden Vaters auf ihre Grausamkeit vorbereitet waren!
»Du beginnst zu begreifen, was? Die Prüfungen . ..« Daios kicherte immer mehr. »Sie werden sich danach selbst nicht mehr kennen – sie werden nur noch Wölfe sein, Wölfe, sag' ich dir, Wölfe...
Die Himmlischen wissen das. Nur ihr wißt das anscheinend nicht!« Daios hielt schon wieder den Becher hin und rülpste. Schwerfällig lallte er: »Keiner weiß es. Nur ich.
Aber ich sag' es keinem. Sollen die Herren selber drauf kommen, dann werd' ich sie unterstützen!
Wenn ich jünger wäre .
Es müßte einmal einer den Mut aufbringen, es zu versuchen.
Sehr junge Knaben mit Sorgfalt auswählen und sie sich ordentlich ziehen ...
Wenn ich jünger wäre . . .«
»Was für eine begnadete Erkenntnis!« stieß Lykos ergriffen hervor.
Daios trank, lachte. »Stutenmilch«, lallte er. »In ihr ist die Wahrheit der Götter. Aber ich sag' es keinem. Keinem!« Dann sank er gegen Lykos und schlief ein.
Einige Zeit hatte er noch gezögert. Zu ungeheuerlich war ihm der Plan erschienen.
Doch dann dieser Fingerzeig der Götter:
Naki fiel vor ihm auf die Knie. Das Entsetzen war ihr ins Gesicht gemalt wie dem Knaben die Lüge –
Bogenschießen? Was für ein Vorwand! Was wollen sie vor mir verbergen?
Jetzt, Lykos, sieh nach dem Rechten und laß sie fühlen, daß du ihr Herr bist!
Und plötzlich der Augenblick der Erkenntnis: Unerforschlich ist der Ratschluß der Himmlischen. Sie kehren Auflehnung zum Mittel der Unterwerfung.
Ich muß sie nur zu gebrauchen wissen.
Lykos lächelte: Er hatte sie zu gebrauchen gewußt.
Fiors Augen weit aufgerissen vor Entsetzen. Er, der Meister, legte den Pfeil an, zielte dicht über die rechte Schulter des mit gebreiteten Armen und gespreizten Beinen in krampfhafter Bewegungslosigkeit vor der Palisade stehenden Knaben. »Jetzt beweise mir, daß du gehorchen gelernt hast!« sagte er leise, fast sanft. »Keine Bewegung, nicht die allerkleinste! Und nicht einen Laut!«
Er schoß. Der Pfeil fuhr fingerbreit über der Schulter des Kindes mit der scharfen Steinspitze ins Holz und blieb zitternd stecken.
Er sah dem Kind in die Augen, sah in ihnen die gleiche lähmende, alles verzehrende Angst, die er selbst empfunden hatte, als die Wolfskrieger ihn der
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