Die Göttin im Stein
Pfeilprüfung unterzogen hatten. Er schoß wieder.
Fior rührte sich nicht. Blieb stumm. Starr hing sein Blick an ihm, der mit den Pfeilen den Umriß des Knaben in die Holzwand prägte – und ungesprochene Worte in dessen Herz.
Merk dir, mein Junge, daß ich der Herr bin –
Schuß –
über dein Leben –
Schuß –
und deinen Tod, –
Schuß –
wie die Götter es sind. –
Schuß –
Merk dir, daß ich vollkommene Macht über dich habe –
Schuß –
und dir jeden Schmerz zufügen kann. –
Schuß –
Merk dir, daß du ohnmächtig bist, –
Schuß
–ganz und gar ohnmächtig, –
Schuß –
nichts tun kannst
–Schuß –
als gehorchen –
Schuß –
und als auf meine unendliche Überlegenheit bauen –
Schuß –
und auf mein großes Können.
– Schuß –
Und hoffen auf meine Gnade. –
Schuß –
Und wage nie, –
Schuß –
dich mir zu widersetzen. –
Schuß.
Nach dem Pfeil über der linken Schulter, als er bereits Rumpf und Gliedmaßen des Jungen mit Geschossen umrundet und dabei mehrfach den Kittel an die Holzwand geheftet hatte, verharrte er einen Augenblick und sah wieder Fior in die Augen. Noch immer war dessen Gesicht starr vor Entsetzen, doch etwas in seinen Augen war neu. War es Anbetung?
Der Junge hatte verstanden.
Er, der Meister, lächelte. Dann umrahmte er den Kopf des Kindes mit einem dichten Hagel makelloser Schüsse.
Er wußte: Seither verehrte Fior ihn wie einen zornigen Gott. Hin und her gerissen zwischen demütiger Ehrfurcht, begeisterter Bewunderung und panischer Angst, war er leicht zu erziehen. Nicht umsonst hatte Lykos von seinem Vater am eigenen Leib erfahren, wie man dabei vorging ...
Lykos schreckte auf. »Wie sagst du? Entschuldige, Hairox, ich war mit meinen Gedanken woanders!«
Hairox verzog den Mund, erwiderte leise: »Das scheint mir auch so, Schwager! Ich würde dir raten aufzupassen. Es ist zufällig der König, der da spricht!«
»... immer größere Verluste«, sagte der König »Immer häufiger geschieht es, daß nicht alle Wolfskrieger zurückkehren von einem Überfall im Westen. Den Lämmern wachsen Hörner und den Schafen Reißzähne! Sie lassen sich nicht mehr widerstandslos abschlachten oder fliehen nicht mehr, bevor unsere Krieger ihre Dörfer erreichen.
Sie haben sich zusammengeschlossen, sie haben, wie stümperhaft auch immer, begonnen, sich im Kämpfen zu üben, und es sind Männer unter ihnen – nun, die können uns zu schaffen machen.
Ihr Anführer – unsere Wolfskrieger nennen ihn den Bernsteinbären, wegen der Bernsteinkette, die er stets um den Hals trägt – ist nicht ohne Mut, Kraft und Geschick. Zwar kann keiner von ihnen unseren Wolfskriegern das Wasser reichen –aber ihre Zahl macht es aus. Denn ihrer werden immer mehr.
Keine unmittelbare Gefahr für uns. Aber eine Herausforderung, über die wir uns klar sein müssen, wenn wir eines Tages einen Großangriff planen und ihr Land bis zu den Grenzen des Meeres an uns reißen wollen – und vielleicht darüber hinaus.
Übt euch in den Waffen, und bestellt euer Haus, ihr Herren! Es könnte der Tag kommen, an dem ihr es getreu eurem Gelübde verlassen und eine Streitmacht bilden müßt, die den Ruhm der Himmlischen trägt bis an die Enden der Welt!«
Ein tosender Schrei war die Antwort. Kein Herr, der nicht auf die Füße sprang, die Hand auf der Streitaxt. Keiner, der nicht schwor, auf der Stelle bereit zu sein.
Lykos schrie lauter als alle. Wolfsblut wallte auf, durchpulste ihn mit lang nicht mehr gefühlter glühender Kraft. Endlich!
Der König hob beide Arme, gebot Ruhe. »Er könnte kommen, der Tag, sagte ich! Nicht: Er ist da!
Unsere Wölfe halten den Bären im Zaum. Wir aber müssen uns rüsten für seine Vernichtung. Das will geplant sein. Muß ich euch erst daran erinnern, daß ihr Herren des Königsrates seid und nicht mehr heißblütige Wölfe?!
Wenn wir uns für den großen Krieg mit dem Westen entscheiden, so besteht kein Zweifel an unserem Sieg. Mögen sich uns Männer in den Weg stellen, so viele wollen – wir werden sie töten oder vor uns herjagen wie schreckhafte Rehe.«
Die Herren riefen Beifall.
Der König wiegte den Kopf und fuhr fort: »Eine Sorge aber erfüllt mich: Wenn unsere Kräfte im Westen gebunden sind, wenn wir in der Ferne kämpfen, um unseren Sieg weit über die Grenzen unseres Landes hinauszutragen, könnte sich Widerstand regen unter den Bauern, die wir hier niederhalten. Sie könnten unseren Familien gefährlich werden, während wir fern sind,
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