Die Göttin im Stein
unfähig, sie zu schützen.
Darum dürfen wir diesen großen Krieg nicht beginnen, ehe wir eine Frage gelöst haben: Was können wir tun, um während eines solchen Krieges hier im Land unsere Herrschaft zu halten und zu festigen?«
Bedenkende Stille.
Einer schlug vor, die Streitmacht zu teilen.
Die Bedächtigeren unter den Herren wiesen dies zurück: Zu wenige, die der Waffen mächtig waren. Wenn das Alte Volk erstmalig ernsthaft Widerstand leistete, so würde man jeden waffengeübten Mann, ob Wolfskrieger oder Herrn, brauchen, um den Sieg über alle zu erringen.
Lang ging die Beratung hin und her, doch führte sie zu keinem Ergebnis.
Lykos saß schweigend und rang mit sich. Seit dem Winter hatte er gewußt, daß der Tag kommen würde, an dem er seine Rede zu halten hatte. Seit dem Winter hatte er Sätze in seinem Kopf hin und her bewegt, hatte mit angespannter Aufmerksamkeit den Gesprächen der weisesten Herren und Priester gelauscht und sie in seine Richtung gelenkt, hatte Gedanken übernommen, geformt und wieder verworfen. War er vorbereitet genug? Sollte er es wagen? Er mußte es. Dies war sein Tag.
Er erhob sich, räusperte sich. »Mein König! Meine Herren! Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Laßt mich einen Rat einbringen, der die vorgezeichneten Wege verläßt!«
Gespanntes Aufhorchen. Der König nickte Zustimmung.
Jetzt galt es. »Unserer sind wenige, der Bauern aber sind viele. Dennoch beherrschen wir sie. Wir üben Gewalt über sie nach dem glanzvollen Beispiel unserer Götter.
Wie können wir das, wir wenigen über die vielen? Was ist unsere Stärke?
Die Himmlischen sind es und unser Vertrauen in die Kraft, Macht und Gewalt unserer Götter.
Unsere Waffen sind es, unsere Streitäxte vor allem, und unsere Überlegenheit als Kämpfer und Krieger.
Und unsere Erziehung ist es, die Prüfungen, die wir abgelegt haben, die Weihen, die wir empfangen haben, die Wut des göttlichen Kriegers, die in uns lebt, uns Mut gibt und uns unbesiegbar macht!«
Einige spendeten Beifall. Andere murrten. Dergleichen Reden kannte jeder von ihnen von beinahe jedem Fest.
Lykos nickte: »Nun, das ist niemandem von euch etwas Neues. Aber ich frage euch: Warum wenden wir das, was uns geformt hat, das, was uns zu den mächtigen Kriegern gemacht hat, die wir sind, nicht an auf die Söhne der Bauern? Knaben genug gibt es unter ihnen vom rechten Alter, Knaben, die stark und gesund genug wären, um die Ausbildung und die Prüfungen zum Wolfskrieger zu überstehen!«
Nun war das Schweigen atemlos, vom Donner gerührt.
»Fürchtet ihr, es wäre unmöglich?« fragte Lykos. »Fürchtet ihr, ein Knabe, der nicht von frühester Kindheit an im Gehorsam, in der Furcht der Götter und des Vaters und in der Verherrlichung der Waffen erzogen ist, wäre untauglich? Oder er könnte uns, wenn wir ihn ausgebildet hätten, als Mann gefährlich werden, ein Dorn sein in unserem starken Fleisch?«
Einige Herren bestätigten diese Befürchtung. Die meisten aber schwiegen noch immer, gebannt von der Aussicht, die Lykos ihnen eröffnet hatte.
»Auch ich hegte diesen Zweifel«, fuhr Lykos fort. »Darum habe ich einen Versuch gemacht. Ich habe einen Knaben aus einer Bauernfamilie an meinen Hof geholt und zu erziehen begonnen. Wohlgemerkt, es ist ein Knabe aus einer sehr unbotmäßigen Familie, die ich zu strafen Anlaß hatte, die sicher den Keim der Auflehnung in das Kind gepflanzt hat.
Dennoch ist der Versuch so überzeugend gelungen, wie man sich nur wünschen kann. Es war ein leichtes! Nicht nur, ihn das Fürchten und Gehorchen zu lehren, daran hatte ich nie gezweifelt.
Was mich mehr in meiner Meinung bestätigt, ist: Dieser Knabe fürchtet mich nicht nur, nein, er liebt und bewundert mich zugleich, ja, er verehrt mich wie einen Gott. Oder richtiger: Er verehrt in mir die Himmlischen selbst. Er hat längst vergessen, wo er herkommt, kennt nur noch ein Bestreben: mich zufriedenzustellen, mein Lob zu erringen, in meinen Augen etwas zu gelten – zu sein wie ich.
Alles habe ich in ihn pflanzen können: die Begeisterung für die Waffen und für die Pferde, für den Kampf und für die Jagd. Die Verherrlichung der Gewalt, der Herrschaft über Leben und Tod als des Glanzes des Himmels, den wir in Händen halten. Die Anbetung der Götter und die Furcht vor ihnen.
Ich wüßte nichts, was ich in ihn nicht einpflanzen könnte. Noch einige Zeit, und er unterscheidet sich nur noch durch sein jüngeres Lebensalter von meinem Bruder. Ja,
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