Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
Vom Netzwerk:
Säugling.
    Auf dem Pferd sitzend wartete er, bis sich alle versammelten, und hieß sie sich in einer einzigen langen Reihe aufstellen.
    Langsam ritt er die Linie entlang, sah von oben herab jeden Bauer, jede Bäuerin und jedes Kind lange und streng an, wohl-überlegte Vorführung seiner Herrschaft.
    Ein Kind weinte. Rasch legte die Mutter ihm die Hand auf den Mund. Dann war es wieder still. Noch immer war kein Wort gesprochen.
    Am Ende der Reihe verharrte er bei Naki. Sie trug ihr Kleid verkehrt herum. Unförmig hing es über ihrem hochschwangeren Leib.
    Naki blickte nicht auf, hielt den Kopf gesenkt, die nach vorne fallenden ungekämmten Haare verbargen das Gesicht, die leeren Hände machten ruhe- und sinnlos die Bewegungen des Spinnens, zwirbelten den unsichtbaren Faden, wickelten ihn auf die unsichtbare Spindel.
    Eintönig wippte sie vor und zurück, vor und zurück.
    Mit dem Treibstachel hob er ihr Kinn, prüfte sich selbst mit einem langen Blick in ihr schmutziges, stumpfes Gesicht, ihre leeren Augen, die blicklos durch ihn hindurchstarrten.
    Sie brabbelte etwas, zeigte ihm ihre unruhigen Hände, als halte sie darin eine Kostbarkeit, und verzog den Mund zu einem einfältigen Grinsen.
    Da ließ er angewidert von ihr ab, wendete das Pferd und ritt langsam die Reihe zurück. Nun zeigte er mit dem Treibstachel auf Jungen etwa in Fiors Alter, auf kräftige, gesund und widerstandsfähig aussehende Jungen: »Du, du, du und du! Tretet vor!« Zögernd befolgten sie seinen Befehl, Angst in den Augen.
    Das Schweigen der Erwachsenen änderte sich, knisterte vor Feindseligkeit.
    Er legte die Hand an die Streitaxt, spürte, wie die Kraft ihn durchpulste.
    Nicht mehr lang, und die Wolfskrieger würden dasein, die er für den Augenblick nach Sonnenaufgang hierher ins Dorf bestellt hatte.
    Aber noch war er allein gegen sie alle.
    Er lächelte. Dann begann er zu sprechen, langsam, leise. Mit voller Absicht trieb er durch die scheinbare Freundlichkeit seiner Stimme die Härte seiner Worte auf den Gipfel:
    »Ist einer unter euch, den ich erst erinnern muß, was er mir schuldet?
    Ist einer unter euch, dem ich ins Gedächtnis rufen muß, was die Wolfskrieger mit diesem Dorf und allen seinen Menschen anfangen werden, wenn auch nur einer von euch mir Widerstand leistet?
    Daß sie jeden hier töten werden, wenn ich von einem Ritt in euer Dorf nicht zurückkehren oder eines unerklärlichen Todes sterben sollte?«
    Er machte eine Pause, ließ seinen Blick über alle schweifen, sah in jedes Auge so lange, bis es sich senkte.
    »Nein?
    Nun, dann will ich gleich zum-Wesentlichen kommen!
    Ich habe im Winter aus eurer Mitte Fior zu mir genommen. Das wißt ihr. Ich habe ihn zu einem anständigen Jungen erzogen, der mir treu ergeben ist. Das seht ihr. Was ihr nicht wißt: Ich habe Großes mit ihm vor. Und nicht nur mit ihm. Mit jedem der Jungen, die hier vorgetreten sind!
    Fior, berichte deinen Freunden, was du an meinem Hof gelernt hast!«
    »Ja, Herr!« Fior, rote Flecken im Gesicht, machte einen Schritt nach vorn. »Ich habe reiten gelernt und die Pferde versorgen. Ich habe besser Bogenschießen gelernt, und mit der Steinschleuder eine Maus zu treffen. Ich habe rennen geübt. Ich habe viel über die Himmlischen gelernt, und wie man sie richtig verehrt, und Lieder und Geschichten und auf vornehme Art essen.« Er stockte, sah Lykos unsicher an.
    »Und vor allem hast du gehorchen gelernt«, sagte Lykos sanft.
    Die Röte im Gesicht des Jungen vertiefte sich. »Ja, Herr. Ich habe gehorchen gelernt«, bestätigte er leise.
    »Gut!« Freundlich lächelte Lykos dem Jungen zu. »Doch warum das alles, Fior, kannst du das auch sagen?«
    Fior schaute ratlos. »Ihr wolltet es so, Herr«, sagte er und lächelte zögernd.
    »Ja, ich wollte es. Ich habe dich aus der Enge und Dumpfheit dieses Dorfes ans Licht geholt. Ich habe dich erhöht.
    Du sollst mir ein Bruder werden und dem König ein Gefolgsmann. Doch nicht nur du.
    Mit dir deine Freunde hier.
    Denn das ist es, wozu ich dich und sie auserwählt habe: Ihr alle sollt Wolfskrieger werden, Wolfskrieger wie die edelsten Knaben der Söhne des Himmels!«
    »Niemals! Niemals!« Der schrille Schrei einer Frau, in den andere Stimmen einfielen, die wütenden Einspruch brüllten, sich steigerten – und abbrachen in atemlosem Entsetzen.
    Denn wie vom Himmel gefallen, waren plötzlich die Wolfskrieger da.
    Wolfskrieger standen hinter den Jungen und legten ihnen die Linke auf die Schulter, während die Rechte die

Weitere Kostenlose Bücher