Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
Vom Netzwerk:
Streitaxt umspielte.
    Wolfskrieger richteten Pfeil und Speer auf die Erwachsenen und die anderen Kinder.
    »Einige von euch scheinen noch nicht begriffen zu haben, welche Gnade euch zuteil wird!« sprach Lykos. »Eure Söhne werden unseresgleichen sein, in ihnen werdet ihr euch mit uns verbinden. Ihr solltet vor Dankbarkeit auf die Knie fallen!«
    Plötzlich schrie er in scharfem Ton: »Auf die Knie, habe ich gesagt!«
    Einige Bäuerinnen, Bauern und Kinder fielen sofort auf die Knie, andere mußten von den Wolfskriegern mit dem Speerschaft dazu ermuntert werden.
    Lykos schrie weiter: »Wagt nicht, noch ein Wort des Widerspruchs zu sagen!
    Wir nehmen jetzt eure Söhne mit und machen Wolfskrieger aus ihnen.«
    Er schwieg. Kinder und Frauen weinten leise. Ungerührt sangen die Vögel. Sonst war es furchtbar still.
    Lykos wußte: Er hatte sie dort, wo er sie haben wollte. Nun mußte er nur noch ein Letztes tun.
    Leise und kalt fuhr er fort: »Wenn ihr euch auflehnt, so werden wir die Knaben unter Qualen töten, von denen ihr in euren schlimmsten Alpträumen nichts ahnt, und euch die gemarterten Körper vor die Türen werfen. Das Grauen werden wir euch lehren an den Leichen eurer Söhne.
    Also seht euch vor! Ich warne euch: Seht euch vor!«
    Damit gab er den Wolfskriegern mit dem Kopf ein Zeichen, ihm mit den Jungen zu folgen, und wendete sein Pferd.
     

14
    Der Atem der Göttin erfüllte das Feld. Es knisterte und wisperte in den goldenen Ähren. Brütend stand die Hitze über dem Weizen, preßte die letzte Reife in das Korn.
    Unterschiedslos schüttete die Göttin Ihr Füllhorn aus über Gläubige und Ungläubige. Dieses Jahr hielten Regen und Sonne endlich wieder das rechte Maß.
    Naki hielt mit einer Hand das Köpfchen des kleinen Wirrkon im Brusttuch, blies leicht in den Flaum seiner dunklen Haare. Mit der anderen strich sie im Gehen über die Ähren.
    Sie kauerte im Schatten des Baumes neben dem Kornfeld nieder, befreite den Boden von Gras und Kräutern und legte den kleinen Wirrkon auf das bloße Erdreich. Sie raffte eine Handvoll Krume und ließ sie auf Wirrkons nackten Bauch rieseln.
    »Fühlst du die Erde? Sie ist deine Mutter, mehr noch als ich.«
    Er lachte, strampelte mit den Beinchen, reckte ihr die Ärmchen entgegen.
    Wieder griff sie in die Krume, stockte. Klein, ausgebleicht und vollkommen in seiner zerbrechlichen Schönheit lag dicht neben ihrem Kind ein Schneckenhäuschen. – Wie ein Geschenk.
    Vorsichtig hob sie es auf, hielt es auf der ausgestreckten Hand, pustete den Sand aus der Öffnung. Dann umfaßte sie Wirrkons kleine Hand, nahm seinen Zeigefinger – wie vollkommen er war mit diesem winzigen Fingernägel – und fuhr leicht mit seiner Spitze die Windungen des Gehäuses nach.
    Wirrkon war ganz still, schaute ihr mit großen dunklen Augen ins Gesicht.
    »Fühlst du es?« fragte sie leise. »Fühlst du das Geheimnis der Schnecke? Wie sie sich zur Spirale dreht? Wie sie sich windet wie die heilige Schlange, die sich einrollt?
    Sie gehört dir. Die Erde hat sie dir geschenkt.
    Sie erzählt eine Geschichte, weißt du. Viele Geschichten. Aber die eine, die will ich dir jetzt erzählen.
    In den alten Zeiten, als die Menschen wie die Tiere von den Gaben der Großen Göttin lebten, als sie die Früchte aßen, die sie fanden, und die Tiere jagten, welche Erde, Luft und Wasser bevölkerten, da wußten sie nicht um das Geheimnis des Korns und kannten nicht die Sättigung des Brotes. Kinder waren sie, die lachend nahmen, was ihnen gegeben wurde, und nicht für den nächsten Tag sorgten.
    Doch die Früchte reichten nicht länger für alle Menschen, und die Tiere flohen in die Tiefen des Waldes und des Meeres. Hunger quälte die Menschen, und viele starben.
    Da riefen sie ohne Unterlaß ihre Große Mutter an.
    Neun mal neun Frauen tanzten neun Tage und neun Nächte den Weg in den Tod. Wie der Gang eines Schneckenhauses wand sich ihr Tanz zu einer neunfachen Spirale. In deren Mittelpunkt aber tat sich unter ihren stampfenden Füßen die Erde auf. Je länger sie tanzten, um so tiefer wurde die Grube.
    Am Abend des neunten Tages geschah es, daß eine Jungfrau mit goldfarbenem Haar, goldfarbener Haut und goldfarbenem Gewand unter ihnen erschien, und sie erkannten sie nicht.
    Die goldene Jungfrau tanzte mit ihnen, und sie zogen sie in die Mitte. Da stürzte die goldene Jungfrau in die Grube.
    Und die neun mal neun Frauen bückten sich und hoben mit ihren Händen Erde auf und warfen sie auf die Jungfrau in der

Weitere Kostenlose Bücher