Die Göttin im Stein
dieses Feuer nicht verhindern können, Göttin – und stützte den Kopf in die Hände.
Lang saß sie so, bis eine Frauenstimme sie aus der Starre löste: »Du bist zurückgekehrt? Du warst im letzten Jahr Daires Gastfreundin, nicht wahr? Ich kenne dich doch!«
»Dort drüben hat er gelegen, der arme Fior«, erwiderte Haibe, ohne sich umzudrehen. »Ermordet von den Wolfskriegern.«
Die Frau setzte sich neben sie. »Du kommst zu spät.«
Der aufrecht stehende verkohlte Pfosten hatte tiefe Risse. Auch er würde bald fallen.
»Zu spät?« wiederholte Haibe.
»Weißt du es nicht? Sie sind tot. Daire, Lele, Irrkru. Auch die kleine Kori.«
»Tot?« Ich sollte schreien, weinen, klagen, warum fühle ich nichts, mir ist kalt, Göttin.
Die Frau legte ihre Hand auf Haibes Schulter. »Daire und Kori starben im brennenden Haus. Irrkru und Lele fielen im Kampf. Sie haben den Aufstand angeführt, hier in der Gegend. Was sie vollbracht haben, war ungeheuerlich. Und doch vergebens. Was sind Bäuerinnen und Bauern gegen Wolfskrieger und Reiter!
Dennoch, sie haben beide gekämpft wie wütende Stiere. Sie haben Hinterhalt um Hinterhalt gelegt. Sie haben das Moor zu ihrem Kampfplatz gemacht. Sie haben gemeinsam mehrere Wolfskrieger getötet, die sich für unbesiegbar hielten.
Sie kannten keine Furcht, Lele und Irrkru. Man sagt, sie suchten in jedem Kampf den Tod. Nach dem, was mit Naki ...« Die Frau brach ab.
Haibe fuhr zu ihr herum. »Nach dem, was mit Naki«, wiederholte sie tonlos.
Die Frau wurde blaß. »Weißt du es noch nicht, wie soll ich es dir sagen, du bist doch Nakis Mutter ...«
486
»Was ist mit Naki?« schrie Haibe.
»Sie ist tot«, antwortete die Frau mit farbloser Stimme. »Sie und ihr kleiner Sohn. Verbrannt, als der Herrenhof abbrannte, den Lele und Irrkru angezündet hatten. Es hieß, Irrkru habe Naki mit Wirrkon aus dem Hof gelockt, um sie zu schützen, aber sie müsse das Feuer gesehen haben und zurückgerannt sein, sie wollte wohl ihr Ziehkind retten, und dabei, dabei ist sie ...« Die Frau stotterte.
Doch das hörte Haibe nicht mehr.
Haibe war aufgestanden und ging mit steifen Schritten den Weg zum Schwarzmoor hinunter.
Irgendwann fand sie sich selbst wieder, auf dem Bohlenweg mitten im Moor.
Da sah sie sich als etwas Fremdes. Eine alte, gebrochene Frau.
Sie betrachtete sich mit leeren Augen: Wohin mit einer, deren Leben keinen Sinn mehr hat.
Ihr fremden Götter, seid ihr nun zufrieden? Habt ihr nun alles, was ihr wolltet?
Naki tot. Der kleine Wirrkon tot.
Diese beiden Leben wollte ich setzen gegen das große Sterben. Ich Närrin.
Zirrkan, auch du hast die Wahrheit nicht gesehen. Wir werden leben, hast du gesagt, und mit uns die Göttin.
Du kennst sie nicht, die fremden Götter.
Ich aber, ich habe sie heute erkannt.
Wie tief ist das Moor?
Haibe machte einen Schritt zur Seite, noch einen. Trat mit einem Fuß auf den weichen schwammigen Moorboden, sah das Wasser zwischen dem Moos hervorquellen, ihren Fuß einsinken.
Brauner Schlamm umfloß das Leder ihres Schuhes. Brauner Schlamm umschloß ihren Knöchel.
Das Torfmoos grünte ungerührt.
Kein Vogel schrie.
Doch da – ein Ruf über dem Moor. »Haibe, bist du es, Haibe, warte auf mich!«
Wem gilt das, mir nicht, mir gilt nichts mehr.
Sie ließ sich am Rand des Bohlenweges nieder. Streckte beide Füße ins Moor, ließ beide Beine einsinken bis zu den Knien.
Wie kalt es ist.
Das Feuer, das euch getötet hat, Naki und Wirrkon, so heiß, diese Qual, dein Todesschrei, wer hat ihn gehört, die Göttin, schrie sie mit dir?
»Haibe!« Arme schlossen sich um sie, eine junge Frau kniete hinter ihr, hielt sie umfangen. »Haibe, hörst du mich, ich bin Fasne, eine Freundin von Lele, ich habe auf dich gewartet, sie hat gesagt, du würdest kommen, die Nachbarin hat dich vorhin getroffen, Haibe, ich weiß, sie hat dir erzählt, Naki ist tot, und das ist leider wahr, aber was sie dir noch gesagt hat, daß auch dein Enkel verbrannt sei, sie weiß es nicht besser, keiner weiß es außer mir, ich habe es Lele geschworen, sie hatte Angst um ihn, schwöre, daß du keinem einzigen Menschen verrätst, wer er ist, keinem, nur Haibe, seiner Großmutter, wenn sie im nächsten Jahr kommt, ich habe den anderen gesagt, er sei ein Findelkind, unter den Trümmern des niedergebrannten Nachbardorfes hätte ich ihn geborgen, seine ganze Familie sei tot, aufgezogen habe ich ihn mit meiner kleinen Tochter gemeinsam, an jeder Brust ein Kind, sieh doch, er ist es,
Weitere Kostenlose Bücher