Die Göttin im Stein
du mir so fremd geworden, und bist doch Blut vom gleichen Blut, durch zahllose Fäden untrennbar mit mir verknüpft, ganz gleich, was sein wird.
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich werde auch nicht bei dir bleiben, Ritgo. Ich hatte gehofft, du würdest bei mir bleiben. Doch nun weiß ich, daß unsere Wege sich trennen müssen.
Ihr Männer! Ihr streitet ums Ganze. Und vergeßt das Einzelne dabei. Die einzelnen Menschen. Denkt ihr denn nicht mehr an unsere Frauen und Mädchen, die von den Wolfskriegern entführt worden sind? Haltet ihr deren Schicksal schon für unwiderruflich? Ich nicht! Ich werde mich nicht damit abfinden, daß sie verloren sind!«
»Aber was willst du tun?« fragten Zirrkan und Ritgo wie aus einem Mund.
»Ich werde sie suchen gehen. Allein. Im Osten, unter den Söhnen des Himmels. Ich werde nach Naki suchen. Nach Mulai, nach Gwinne, nach Uori. Nach all meinen Kusinen und Nichten. Nach deiner Songo, Ritgo, und ihrer Eire. Nach allen Mädchen und Frauen der Koa. Und nach all den anderen, die verschleppt worden sind. Ich schwöre, ich werde nicht ruhen, ehe ich weiß, was ihnen geschehen ist!«
Zirrkan. Seine Wärme, der Trost seiner Arme.
Sie lag von ihm abgewandt, in sich zusammengerollt wie ein Kind. Er hielt sie von hinten umfangen.
Sie schien nur geboren, um in die schützende Rundung seines Körpers aufgenommen zu werden.
Die Hitze war verklungen. Stille Traurigkeit kam über sie und deckte sie zu.
Eben noch waren sie eins gewesen, heil und vollkommen.
Leise begann er zu sprechen: »Ich weiß, Haibe, daß du nicht bei mir bleiben kannst. Ich weiß, daß du nach Naki und den anderen suchen mußt. Ich will es dir nicht ausreden. Aber hör mir zu, ja?«
Sie nickte in seine Hand hinein.
»Was nützt es, wenn du Naki findest und sie nicht retten kannst? Was nützt es, wenn du deine Schwester, deine Kusinen und Nichten, deine Freundinnen und ihre Töchter findest und keinen Ausweg für sie weißt? Sei nicht blind vor Schmerz, mach die Augen auf!«
Einen Augenblick wünschte sie, er hätte geschwiegen, hätte nicht ihre Wunden aufgedeckt.
Dann wandte sie sich um und stützte den Kopf auf. »Ich habe die Augen offen! Ich will sehen, ob Naki lebt und ob die anderen leben. Ich will sehen, ob sie fortgehen können, dort, wo sie sind.
Vielleicht ist es nur die Hoffnungslosigkeit, die sie festhält. Und wenn sie gefangengehalten werden, so will ich sehen, ob ich sie befreien kann.
Wenn die Wölfe sie hätten töten wollen, so hätten sie es doch im Dorf getan!
Aber wenn sie am Leben sind, so müssen sie irgendwo zu finden sein. An den Höfen der Söhne des Himmels!
Es kann nicht möglich sein, so viele Frauen lebend einfach verschwinden zu lassen.
Und schließlich – wozu sollten die Söhne des Himmels die Frauen überhaupt verstecken? Wen sollten sie fürchten?!«
»Ich glaube, du hast recht«, stimmte Zirrkan nachdenklich zu.
»Ich muß herausbekommen, was da vor sich geht«, fuhr Haibe fort. »Dann erst weiß ich, ob ich etwas tun kann – und was.
Vielleicht bereiten sie längst ihre Flucht vor und wissen nur nicht, wohin sie sich wenden sollen?
Ich will versuchen, ihnen zur Flucht zu verhelfen oder sie zu sammeln. Und ich werde nicht aufgeben, ehe ich Naki bei mir habe.
Und dann, wenn das alles gelingen sollte – dann will ich sie zu dir führen, in die neue Heimat, von der du sprichst!
Das, Zirrkan, das ist mein Traum, der mich am Leben halten wird.«
»So träumst du das gleiche wie ich!« Mit dem Handrücken strich er über ihre Schulter. »Aber auch wenn die Göttin mit dir ist und du Naki und alle anderen findest und sie wirklich befreien kannst, wie willst du mit ihnen den Weg an einen Ort finden, den du nicht kennst?«
Sie zögerte. »Kannst du mir den Weg nicht erklären?«
»Erklären?!« Er setzte sich auf. »Mach dir nichts vor! Du kannst einen solchen Weg nicht nach meinen Erklärungen gehen! Ich werde selber Mühe genug haben, ihn wiederzuerkennen, und bin ihn doch schon einmal hinauf- und einmal herabgezogen!
Mehrere Monde habe ich mit all meinen Irrtümern und Fehlversuchen für den Hinweg gebraucht, und wäre ich einer
Wegbeschreibung gefolgt und nicht dem Gesicht meiner Mutter, so hätte ich ihn nie gefunden! Mein Rückweg hat immerhin noch mehr als einen Mond gedauert, und da bin ich sehr rasch und angestrengt gewandert und wußte, wonach ich Ausschau hielt!«
»Ich dachte, ich muß immer nach Norden gehen?« fragte Haibe.
»O nein, so einfach
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