Die Göttin im Stein
abliefern oder Arbeit leisten, daß sie selbst Mangel leiden, die Frauen und Mädchen leben in ständiger Furcht vor Vergewaltigung durch die Wolfskrieger, und alle miteinander sind sie der Willkür ihres jeweiligen Herrn ausgeliefert. Ich ziehe meine Folgerungen aus dem, was ich höre. Es gibt Leute, die lernen, und andere, die bleiben unbelehrbar!
Hast nicht auch du einst die Toten deines Dorfes bestattet? Hast nicht auch du das Grauen in ihren Gesichtern gesehen, die Pfeile in ihrer Brust, ihre zertrümmerten Schädel? Hast nicht auch du verkohlte Leichen unter verbranntem Gebälk hervorgezogen und weinend in deinen Armen zum Grab getragen, nicht wissend, ist es Bruder oder Oheim, den du da trägst?
Wie konntest du das tun, ohne dir bei jedem Atemzug zu schwören, daß du das Auge ausstechen wirst, das den Pfeil auf deinen Neffen gerichtet hat, daß du die Hand abhauen wirst, die deinem Bruder den Schädel zerschmettert hat?
Wie kannst du weiterleben und nichts tun, um den Wölfen in den Weg zu treten und sie an ihrem Schreckenszug zu hindern?
Weniger als nichts!«
Haibe, fassungslos, legte ihrem Bruder die Hand auf den Arm.
»Ritgo, warum tust du das? Warum beleidigst du Zirrkan?«
Ritgos Augen wurden noch schmaler. »Er weiß genau, worum es geht! Wir beide, er und ich, haben die halbe Nacht gestritten, seit er gestern abend hier ankam!
Versteh doch, Haibe: Wo wir hingehen können, da können auch die Söhne des Himmels hingehen! Solange wir sie nicht hindern, werden sie uns vor sich herjagen wie der Jäger das Reh, und wo wir uns niederlassen, da werden sie über uns kommen und uns vernichten oder unterjochen!«
»Aber Zirrkan sagt, das Land liegt weit entfernt, jenseits des Meeres – warum sollten sie uns dorthin folgen, wenn sie erst unsere Heimat in Besitz haben?«
»Warum?« erwiderte Ritgo erregt. »Weil es nicht nur die Not ist, die sie treibt, nicht nur die Trockenheit und der Mangel an Weideland! Weil es die reine Mordlust ist! Die Toten schreien es zum Himmeh, hört ihr es nicht?!«
»Ich höre, die Toten mahnen uns zu raschem, entschiedenem Handeln!« erwiderte Zirrkan.
»Das auch«, stimmte Ritgo zu. »Aber ich lasse nicht zu, daß du Haibe auf deine Seite ziehst, kaum daß sie wieder denken kann!
Zu mir gehörst du, Haibe, ich brauche dich! In jeder Männerversammlung, mit der ich spreche, sammle ich die mutigsten Männer um mich, aber dann gehen sie heim und beraten sich mit ihren Schwestern und Müttern und Nichten, und dann werden sie wieder wankend in ihrem Entschluß! Und mehr als einmal stand der Rat der Sippenmütter gegen die Meinung der Männerversammlung.
Darum mußt du mir helfen! Du mußt die Frauen überzeugen, denn du weißt selbst, ohne sie ist jeder Entschluß der Männerversammlung nur eine halbe Sache! Ohne die Frauen gibt es keine Einigung im Allgemeinen Dorfrat, und ohne den Allgemeinen Dorfrat und den Rat der Sippenmütter gibt es keine Entscheidung. Und nun, da sich die Priesterinnen für die Flucht ausgesprochen haben, wird es noch viel schwerer für mich, ziehen sich auch Männer wieder zurück, die bereits fest auf meiner Seite standen!«
»Wovon redest du?« fragte Haibe, ein Schaudern kroch ihr den Rücken herauf.
»Krieg«, sagte Zirrkan, »dein Bruder redet von Krieg!«
Worte bildeten sich auf ihrer Zunge, woher kamen sie, sie drängten sich ihr auf: »Gewalt ist niemals ein Mittel, das zu bekommen, was man will, und das zu verteidigen, was man hat. Niemals!«
»Ich weiß, daß ich das gesagt habe!« brach es aus Ritgo heraus. »Ich weiß, daß ich das meinen Neffen beigebracht habe, so wie es mich mein Oheim gelehrt hat! Schwer genug war es, etwas davon in Karus Kopf hineinzubekommen! Und nun ist Karu tot. Tag für Tag habe ich meine Blindheit verflucht, daß ich nicht sehen wollte, was sichtbar war: Die Söhne des Himmels werden sich niemals mit dem bescheiden, was sie haben. Sie werden immer mehr haben wollen. Und noch mehr. Und noch mehr. Es gibt nur einen Weg, ihnen wirksam zu entkommen: bewaffneten Widerstand!«
»Willst du alles verraten, was uns heilig ist?« fragte sie.
Er faßte sie an den Schultern. »Schwester«, sagte er eindringlich: »Ich schwöre bei unseren Toten: Ich will es nicht verraten, ich will es retten! Meinst du, die Vorstellung macht mich glücklich, ich müßte einem Mann den Schädel einschlagen?! Ich war ein Bauer, und ich war ein guter Bauer, und nichts in der Welt wollte ich je sein als ein Bauer. Doch die Welt, in der
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