Die Göttin im Stein
ist es nicht! An den richtigen Stellen mußt du dich nach Osten wenden, du mußt Moore und Sümpfe umgehen, Irrwege um Meeresbuchten herum vermeiden, über Ströme übersetzen und vor allem die drei Meerengen finden, die du überqueren mußt. Wenn du diese Meerengen verfehlst, werdet ihr niemals zu uns gelangen!
Und du weißt nicht, wo du Menschen bitten kannst, dich mit einem Boot überzusetzen, du sprichst ihre Sprache nicht –glaub mir, Haibe, es ist unmöglich!«
»Es darf nicht unmöglich sein! Wenn man es nicht versucht hat, kann man nicht sagen, es sei unmöglich!«
»Das ist wahr. Aber du mußt alles tun, um das Unmögliche zu ermöglichen!«
»Und wie?«
Sie wußte, was er antworten würde. Sie wollte es hören. Und glauben.
»Du mußt in diesem Winter mit uns ziehen. Du mußt die neue Heimat mit eigenen Augen sehen und dir den Weg einprägen.
Dann, im Frühjahr, kannst du zu den Söhnen des Himmels umkehren und die Deinen suchen und zu uns führen. Und die Göttin beschütze dich und die Frauen und Mädchen und uns!«
Eine Frist.
Ein Glück, das ihr nicht zustand.
Mit beiden Händen griff sie danach.
Schneidend pfiff der Wind über das weite Moor und trieb ihr feinen Schneeregen ins Gesicht. Schaudernd zog Naki den Mantel enger um die Schultern: So scharf weht der Wind bei uns daheim nie.
Bei uns daheim! höhnte Tante Mulais Stimme.
Naki preßte die Lippen zusammen.
Hinter den anderen ging sie auf dem Bohlenweg durch das Moor. Kaum konnte sie diesen überwucherten Weg erkennen, doch die anderen fanden ihn mit traumwandlerischer Sicherheit.
Nakis Augen glitten vom Pfad ab, über Wollgras und Ried, braune Tümpel und trügerisches Torfmoos.
Ein paar Schritte nur zur Seite, und du würdest versinken! sagte Tante Mulais Stimme.
Wie tief das Moor hier wohl sein mag – tief genug? fragte Oheim Ritgos Stimme.
Alles hätte ein Ende! flüsterte Tante Mulai verheißungsvoll. Die Alpträume. Lykos' Umarmungen. Und die furchtbaren Erinnerungen.
»Lele!« rief Naki voll Angst.
Lele, die junge Schwester der Hofbäuerin, drehte sich um, eine Hand auf ihrem schwangeren Leib. »Was ist, Naki? Heute werden wir fertig, dann hat diese Schufterei am Grab von Nuerkop ein Ende!«
Naki antwortete nicht. Schweigend gingen sie weiter. Naki starrte auf Kori, die an Leles Hand auf einem Bein den Weg entlanghüpfte. Ein Stück auf dem rechten Bein, ein Stück auf dem linken Bein.
So war ihr kleiner Bruder an ihrer Hand gehüpft. Rablu –Naki sah nicht mehr den Weg und nicht mehr das Moor.
»Mutter!« schrie der kleine Rablu. »Mutter!«
Er rannte aus dem brennenden Haus, an ihr vorbei, auf den Dorfplatz.
Rablu, nicht, sei still, Rablu, versteck dich!
Sie zerrte und riß an ihren Fesseln. Die Stricke zogen sich immer fester. Der Knebel schnitt in ihren Mund. Nur
ein ersticktes Stöhnen drang hervor, kein Schrei der Warnung.
Dort der Wolfskrieger – halb Wolf, halb Mann. Das Wolfshaupt mit den drohend gefletschten Zähnen auf dem Kopf, der zottige Pelz, das hochrote Gesicht.
Rablu, Rablu .. .
Der Kleine rannte genau in die Arme des Wolfskriegers.
Der fing ihn am Kittel, riß ihn in die Höhe. Fest schlossen sich die grausamen Hände um Rablus kleinen Hals.
Rablu zappelte, schlug verzweifelt um sich.
»La ß meinen Bruder los!« Wild gellte der Schrei, und Karu
stürzte herbei, schwang einen schweren Stock, stürzte sich blindlings auf den Krieger.
Der warf Rablu von sich, mit blau angelaufenem Gesicht blieb Rablu liegen, den Kopf merkwürdig verrenkt. Der Wolfskrieger fing den Schlag ab, den Karu gegen ihn führte, riß Karu an dem Stock zu sich heran. Laß los, Karu, lauf weg,
doch Karu hielt den Stock umklammert. Da riß der Wolfskrieger die Streitaxt vom Gürtel . . .
Naki preßte die Hände vors Gesicht. Blind taumelte sie vorwärts. Der Boden gab unter ihren Füßen nach. Entsetzt schrie sie auf.
Das Moor.
Na also! höhnte die Tante. Naki sank. Schrie.
Bis zu den Knien, bis zu den Hüften stak sie im Moor, Große Göttin, rette mich, tiefer sank sie. Hilf mir, rette mich ...
Da war festerer Boden unter ihr, der sie aufhielt, und dann waren da Arme, die nach ihr griffen, Lele kniete hinter ihr, umschlang sie vom Bohlenweg aus. Auch Daire eilte herbei, gemeinsam zogen die beiden Frauen Naki auf den festen Steg. Kori hielt Nakis nassen Rockzipfel.
»Danke«, sagte Naki zitternd.
Große Göttin, heilige Bärin, du schützt dein Junges, ich danke dir!
Daire nahm sich den Mantel von den
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