Die Göttin im Stein
an die Ohren, vergrub ihr Gesicht zwischen den Knien. Nicht hinhören!
Da wurde die Stimme lauter: Er wird sagen, es ist sein Kind! Sein Fleisch und Blut!
Sie wimmerte.
Jemand stieß sie in die Seite, zog sie in die Höhe. Scharfe Worte in der fremden Sprache schnitten sich in ihr Bewußtsein. Sie blickte auf: Lykos. Hoch über ihnen saß er auf dem Pferd und herrschte sie mit einer zornigen Rede an, von der Naki nicht viel mehr als zwei Wörter verstand: Arbeit, Strafe.
Lele war es, die sie zum Aufstehen gebracht hatte. Zitternd klammerte sich Naki an sie.
Lele antwortete Lykos mit hastig hervorgestoßenen Worten.
Lykos schwang sich vom Pferd, nahm sich den Mantel ab und legte ihn Naki fürsorglich um.
»Ich habe ihm gesagt, daß du schwanger und krank bist«, flüsterte Lele ihr zu, »und daß ich mich um dich kümmern mußte!« Beschwörend fügten ihre Augen hinzu: Sorg dafür, daß er es glaubt!
Lykos hob Naki auf, setzte sie auf das Pferd, schwang sich hinter sie, rief Lele einen Befehl zu und ritt mit Naki los, zurück über den Bohlenweg zu Daires Hof.
Er wärmte sie, hielt sie sicher und gut. Und kein Wort mehr von Arbeit oder von Strafe.
Tante Mulai lachte. Kein gutes Lachen.
9
Es war doch noch Winter geworden. Zwei Tage vor dem Mittwinterfest strahlte eine frostige Sonne auf leuchtenden Schnee. Und gleich erschien das Leben freudiger.
Seit die Sonne schien, hatte Naki keine Stimmen mehr gehört.
Sie hatten für das Fest ein Schwein geschlachtet. Nun hatten sie im Hof ein Feuer entzündet und kochten Wurst. Lele wusch und bürstete die Gedärme und die Blase des Schweins, ihr größerer Bruder Irrkru schnitt Fett und Fleisch in kleine Würfel, Naki selbst kauerte am Feuer und rührte das Blut in dem großen Topf.
Ihr Blick glitt über den Hof, streichelte, was sie sah: die kleine Kori, die im Schnee spielte, Fior, den jungen Bruder von Irrkru, Daire und Lele, der sich wieder einmal vor der Arbeit drückte und im Bogenschießen übte, und Irrkru, dessen Rückenansicht sie so sehr an ihren Bruder Wirrkon erinnerte, daß es schmerzte: der helle Schopf lockiger Haare, der breite Rücken.
Irrkru wandte den Kopf, bemerkte ihren Blick, lächelte ihr zu. Das Strahlen seiner Augen ließ die wulstig rote Narbe vergessen, die vom Ohr bis zum Mundwinkel sein Gesicht entstellte. Naki lächelte zurück. Kurz legte sie die Hand auf ihren Bauch: Mein Kind, du wirst an einem guten Hof aufwachsen.
Du wirst einen guten Onkel und gute Tanten haben und eine liebe Kusine – und wenn Lele einen Sohn bekommt, dann hast du auch einen Vetter. Nur einen Muga, einen Muga wie meinen, den kann ich dir nicht geben.
Der
Muga rannte aus dem Haus. Da, auf dem Dach, der Wolfskrieger, er duckt sich zum Sprung...
Gewaltsam schüttelte sie das Bild ab. Sie drehte sich zu Lele um: »Komm, lernen wir weiter!«
Lele nickte und fuhr fort, Naki Sätze in der Sprache der Söhne des Himmels vorzusprechen. Naki sprach sie nach.
Tag für Tag übte sie sich in der Sprache von Lykos. Sie hatte es ihrem Kind versprochen. Und sie wunderte sich selbst darüber, wie leicht sie lernte – und wie gern.
Wenn sie lernte, brauchte sie sich nicht zu erinnern. Wenn sie lernte, brauchte sie nicht nachzudenken. Wenn sie lernte, hörte sie keine Stimmen.
»Was heißt: Ich freue mich, Euch zu sehen?« fragte Lele.
Naki suchte nach den Worten. Langsam sprach sie den Satz. Da traf sie etwas sehr Kaltes ins Gesicht. Unwillkürlich schrie sie auf.
Kori lachte laut.
»Na warte«, rief Naki, »mir einen Schneeball ins Gesicht zu werfen! Dich kriege ich!«
Quietschend rannte die Kleine vor ihr davon. Naki lief hinterher, tat, als versuche sie Kori einzuholen, als schaffe sie es nicht, warf mit Schnee nach der Kleinen, warf mit Absicht daneben, Kori wieselte hin und her, kreischte.
»Geht weg, hier will ich schießen!« beschwerte sich Fior, sie achtete nicht auf ihn, warf sich vorwärts, fing Kori ein, kugelte mit ihr durch den Schnee. Auf dem Rücken blieb sie liegen, hob mit ausgestreckten Armen Kori in die Luft, Kori strampelte, »Runter, runter!«
»Du bleibst da oben, bis du mir versprichst, daß du auch
Irrkru einen Schneeball ins Gesicht wirfst!« sagte Naki mit gespielter Strenge.
Kori kicherte. »Zwei!« versprach sie.
»Na dann!« Sie setzte die Kleine ab, formte ihr zwei große Schneebälle, drückte sie ihr in die Hände. »Versprochen ist versprochen!«
Kori rannte los, rannte zu Irrkru und warf die Bälle nach ihm, verfehlte ihn
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