Die Göttin im Stein
dafür.
»Eine Bitte?« Lykos hob die Augenbrauen, erfreut, doch auch sehr wachsam. »Sprich!«
Sie zermarterte ihr Hirn nach den richtigen Sätzen, fand sie nicht. Warum bloß konnte sie seine Sprache nicht besser–wie nannte man in Lykos' Sprache das Bogenschießen? »Fior«, sagte sie mit einer unsicheren Geste, sie mußte Lykos nichts mehr vormachen, ihre Hilflosigkeit war echt. »Darf ich ihn, darf er für mir ...?«
Lykos nickte, wandte sich um und rief selbst nach Fior.
Ängstlich kam Fior näher. »Paß auf, Fior«, sagte sie hastig–jetzt keinen Fehler machen, vielleicht versteht Lykos von unserer Sprache viel mehr, als er je erkennen läßt – »jetzt bitte den Herrn um das, was du dir wünschst, er ist bereit, dir eine Gnade zu erweisen, bitte ihn, dich im Bogenschießen zu unterrichten!«
Fiors Augen wurden rund. Ungläubig glotzte er sie an, dann Lykos, öffnete stumm den Mund, ganz Fassungslosigkeit, stotterte blöde ein paar Sätze in der Sprache der Herren.
In Lykos' Gesicht erst Mißtrauen, dann eine gnadenlose Härte.
Tante Mulai höhnte: Du hast alles verdorben, alles verloren!
Kälte kroch in ihr Herz. »Verzeiht, Herr«, flüsterte sie tonlos die fremden Worte, sank vor Lykos in die Knie, keine Verstellung mehr, tödlicher Ernst.
Ein endloser Augenblick.
Und dann – zog Lykos Naki mit einer Hand hoch, sprach mit Fior, knappe Fragen in nicht unfreundlichem Ton, zitternde Antworten von Fior, und schon nickte Lykos, lächelte sogar, ließ sich von Fior den Bogen reichen und ging mit ihm zur Seite.
Naki starrte den beiden nach. Heilige Schlange, ich danke dir. Du bist wahrhaft allmächtig.
Ich habe mich getäuscht. Ich habe geglaubt, er hätte alles durchschaut–
Ihr war so elend, daß sie sich setzen mußte.
Lykos spannte den Bogen, redete dabei mit Fior, reichte ihm den Bogen, verbesserte dessen Haltung, ließ ihn schießen.
Lele setzte sich neben Naki auf die Bank. »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie leise.
»Ich mußte Lykos irgendwie aufhalten«, gab Naki flüsternd zurück. »Im Haus war eure Vorratsgrube geöffnet.« Lele preßte Naki die Hand.
Lykos hatte den Bogen wieder an sich genommen, zielte damit auf einen Vogel, eine kleine Meise, die vom Hausdach in Richtung auf den Baum flog, einen kurzen Augenblick verfolgte Lykos ihren Flug, dann schoß er. Und der kleine Vogel fiel vom Pfeil durchbohrt auf den Hof.
Eine Meise im Flug – o Wirrkon, es war völlig unmöglich für dich, Lykos' Pfeil zu entkommen ...
Fior rannte zu dem Vogel, brachte den Vogel mit dem Pfeil zu Lykos, hielt ihn mit unverkennbarem Erschrecken hin.
Blutdunst wehte vom Schlachtplatz herüber. Flau spürte Naki die Übelkeit im Magen.
Lykos zog den Pfeil aus der Meise, warf diese achtlos in den Schnee, reichte Pfeil und Bogen an Fior zurück, gab diesem erneut Anweisungen. Als verstünde es sich von selbst, daß ein Herr wie er einen Bauernjungen unterrichte.
Fior, vor Anspannung die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, befolgte mit bleichem Gesicht, was Lykos sagte.
»Naki, du hast uns gerettet«, flüsterte Daire. Naki hatte nicht bemerkt, wie Daire und Irrkru herzugekommen waren. »Wie hast du das fertiggebracht, daß Lykos sich mit Fior abgibt!«
Naki schüttelte nur den Kopf, holte tief Luft.
Der Vogel im Schnee – Wirrkon im Sand ...
Noch immer kämpfte sie gegen das Erbrechen.
»Irrkru! Irrkru!« Fior rannte über den Hof, rannte auf sie zu. »Der Herr hat gesagt, er braucht einen Jungen wie mich. Ich, ich soll seine Pferde versorgen und er, er will mich erziehen, Irrkru, bitte, sag, daß das nicht geht, ich, ich will das nicht, nicht zu ihm –« Er brach ab, starrte den großen Bruder hilfeflehend an.
Irrkru sog scharf die Luft ein. »Das lasse ich nicht zu!« stieß er zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Und wenn er mich umbringt!«
»Um Himmels willen, Irrkru«, flüsterte Daire, »denk an den Überfall, denk an Lele, denk an unseren toten Bruder und an meinen toten Mann, diesmal wird er uns alle umbringen, sag nichts dagegen, du kannst nichts tun, halt den Mund!«
Was hast du getan, Naki! warf die Stimme des Großen Oheims Naki vor. Vor der einen Gefahr hast du sie gerettet. Aber um welchen Preis! Er nimmt ihnen Fior weg, was wird aus dem Jungen werden, du hättest es wissen sollen ...
Lykos trat zu ihnen, blieb vor Naki stehen, hob leicht mit der Fingerspitze ihr Kinn. »Zufrieden, meine Liebe?« fragte er lächelnd. Doch in seinen Augen ein harter
Weitere Kostenlose Bücher