Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die goldene Barke

Die goldene Barke

Titel: Die goldene Barke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
Vom Netzwerk:
ihren Blicken. Tallow lag mit dem Gesicht im Moos und murmelte im Delirium leise vor sich hin. Miranda rollte ihn vorsichtig auf den Rücken und sah, daß seine Augen geweitet und leer waren, die Pupillen klein und daß sich die Augäpfel wild hin und her bewegten.
    Ein leichtes Rascheln im Gebüsch hinter ihr erschreckte sie. Sie fuhr herum und zuckte zusammen, als ihr die jähe Bewegung neue Schmerzen bereitete. Sie starrte in die Düsternis, konnte aber nichts erkennen, von dem das Geräusch hervorgerufen worden sein konnte, das sie gehört hatte. Hinter der ersten Reihe von uralten Bäumen war nichts als Schwärze. Sie wandte sich wieder Tallow zu, der sie jetzt verwirrt anblickte. »Miranda?« kam es mühsam über seine aufgedunsenen, blauen Lippen.
    »Keine Angst, Liebling«, sagte sie. »Man hat uns anschei
nend freigelassen.«
»Wir sind frei?«
»Ja, du Lieber.«
»Weshalb?«
    »Weil wir ihnen nichts verraten konnten, nehme ich an. Wir müssen Wasser finden. Kannst du aufstehen?«
    Tallow kam auf die Beine und schrie auf, weil die Wunden brannten, die ihm die Peitsche zugefügt hatte. »Gott«, ächzte er, »warum haben die das mit uns gemacht?« »Weil sie uns zum Sprechen bringen wollten.«
    »Aber wir haben ihnen doch alles gesagt, oder? Wie konnten wir das ertragen? Ich muß ihnen alles gesagt haben, was sie hören wollten.«
    »Das hast du nicht, und ich weiß nicht, warum. Ich wußte nicht viel und sagte fast nichts, aber mein Grund war vermutlich Treue. Du bist niemandem treu, außer dir selbst.« »Du hast recht.« Er versuchte zu gehen und krümmte sich zusammen. »Ich begreife es nicht. Ich muß zurück zu meinem Boot.«
    »Noch nicht, Liebling, noch nicht. Wir müssen erst einen
    Bach finden und unsere Wunden waschen.«
    Sie nahm ihn bei den Händen und führte ihn langsam durch den Wald. Griff, der Spürhund und Verfolger, der sich in den Schatten der großen Bäume verbarg, reckte seinen langen Hals und preßte stumm die Lippen aufeinander. Griff hatte scharfe Raubvogelaugen und glich ein wenig dem Falken, der Natchos Fahne zierte. Griff grinste vor sich hin. Es war nicht schwierig, den beiden zu folgen, da sie sich nur langsam fortbewegen konnten. Der Wald bot ihm die Deckung, die er brauchte, und noch mehr. Er schlich geräuschlos hinter dem Paar her, leise wie ein Aasfresser.
    Dann verschwanden die beiden. Griff beschleunigte erstaunt seine Schritte und begann leichtfüßig durch den Wald zu rennen, konnte sie aber nicht mehr sehen und nicht mehr hören. Sie waren und blieben verschwunden. Griff war nicht abergläubisch, und seine Einbildungskraft war nicht stark genug, um das Übernatürliche zu fürchten. Vor einem Augenblick hatte er sie noch gesehen, dann waren sie plötzlich verschwunden. Griff fand ihre Spuren und ging, das Gesicht dicht über dem Boden, weiter und verfolgte die Fährte, bis auch diese ganz unvermittelt abbrach. Griff blickte zu den Kronen der Bäume hinauf, konnte aber auch nichts entdecken. Er suchte den Boden in der Umgebung der letzten Spuren ab und fand weder einen Tunnel noch eine Höhle, in die sie vielleicht gestürzt waren.
    Tallow und Miranda fiel nichts Merkwürdiges auf. Sie hatten beide zuviel Schmerzen, um zu bemerken, daß der Wald heller geworden war und die Bäume ungewöhnliche Farben zeigten. Hand in Hand suchten sie einen Fluß und fanden schließlich einen, der klar und rein war. Miranda sank dankbar am Ufer nieder und tauchte Hände und Kopf ins Wasser. Tallow brach neben ihr zusammen und blieb schwer atmend auf dem Bauch liegen, den Kopf in die klauenartigen Hände gelegt.
    Das Wasser war noch wohltuender, als Miranda erhofft hatte,
    und Tallow hatte dasselbe Gefühl. Nachdem sie aus dem Fluß getrunken hatten, fühlten sie sich kräftiger und weniger erschöpft. Inzwischen war es stockdunkel geworden, und sie konnten kaum mehr etwas sehen, nicht einmal den Himmel, der von einem dichten Gewirr von Zweigen und Blättern verdeckt war. Sie liefen eine Weile ziellos weiter, bis sie müde waren. Es handelte sich um eine Müdigkeit, wie sie durch Mangel an Schlaf entsteht, nicht um die schreckliche Erschöpfung von Körpern, die gefoltert worden waren. Sie schliefen ein, und als sie im fahlen Morgengrauen wieder erwachten, waren sie voller Staunen über das, was sie sahen.
    »Sind wir gestorben?« fragte Miranda und blickte mit gerunzelter Stirn auf Bäume mit orangefarbenen Stämmen und violetten Blättern. »Oder sind wir ins Märchenland gelangt?«

Weitere Kostenlose Bücher