Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die goldene Barke

Die goldene Barke

Titel: Die goldene Barke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
Vom Netzwerk:
»Wir sind nicht tot«, sagte Tallow überzeugt. »Das würde ich doch merken. Und da ich das Märchenland nicht kenne, kann ich nicht sagen, ob wir uns dort befinden oder nicht, obwohl ich es bezweifle. Die Färbung der Pflanzenwelt ist wirklich ungewöhnlich, aber es gibt wahrscheinlich eine wissenschaftliche Erklärung für die Erscheinung. Es gibt kein Gesetz, wonach Rinde braun und Blätter grün sein müssen, oder? Wir erwarten einfach, daß sie es sind. Wir wären nicht überrascht, wenn ein Bekannter, der sich normalerweise rot kleidet, eines Tages in gelben Kleidern erschiene. Warum sollen wir also überrascht sein, wenn Stämme orangefarben und Blätter violett sind?«
    »Du bist zu logisch, Jephraim«, sagte Miranda langsam. »Viel zu logisch für einen Menschen, wenn es dir wirklich ernst mit dem ist, was du sagst. Es ist aber trotzdem beruhigend, deine Logik hier zu wissen. Hier ist alles sehr seltsam.« »Ich bin froh, daß du mir etwas von dem zugestehst, was ich gestern sagte«, erwiderte Tallow. »Du sagst, ich bin viel zu logisch für einen Menschen. Von der Logik weiß ich nichts, aber du hast ungewollt zugegeben, daß ich nicht wie der Rest
    der Menschheit bin.«
    »Um so mehr hast du Grund, dich anzustrengen, so wie wir zu sein.« Miranda legte die Stirn in Falten. Sie stand auf und war erstaunt, daß der Schmerz von gestern jetzt nur noch ein dumpfes Ziehen war. Tallows Rücken, der bis aufs rote Fleisch gepeitscht worden war, schien beinahe völlig verheilt zu sein. »Hier herrscht irgendein Zauber oder so etwas«, sagte sie leise. »Unmöglich!« rief Tallow verärgert aus. »Der Bach, in dem wir badeten, kann voller natürlicher Salze sein, von denen wir noch nichts gehört haben. Ich glaube erst an Zauber, wenn ich jemanden sehe, der die Sonne anhält.«
    Miranda sagte nichts. Sie ging zu einem der orangefarbenen Stämme und untersuchte ihn. Abgesehen von der Farbe glich er den Bäumen, die sie schon gesehen hatte. »Ich schlage vor, wir laufen lieber weiter«, sagte sie.
    »Na schön«, stimmte ihr Tallow zu und sah sich den Baum auch an. »Welche Richtung?«
    »Einfach weiter, meine ich. Wenn wir zurückgehen, nimmt man uns vielleicht wieder gefangen.« Sie ergriff ihn bei der Hand und führte ihn weiter über kurzes Gras, das leuchtend gelb war und sich unter ihren bloßen Füßen kühl anfühlte. Auch im Wald war es kühl, obwohl die Sonne schon im Zenit stand und dort hereinschien, wo das Blattwerk nicht so dicht war. Über der Gegend lag ein Hauch von Zeitlosigkeit, von vorzeitlicher Stille. Tallow konnte die seltsamen Gefühle, die ihn überkamen, nicht logisch erklären, auch den Waldgeruch nicht, der anders als alle Gerüche war, die er kannte. Die Vogelrufe und die kleinen, goldenen Vögel, die er von Zeit zu Zeit sah, waren ihm ebenfalls fremd.
    »Ich wollte, ich wüßte, wie lange wir bewußtlos waren«, sagte er. »Vielleicht wurden wir in ein fremdes Land gebracht, möglicherweise auf eine Insel. Ich weiß zwar nicht, warum sich Natcho diese Mühe machen sollte, aber es sieht so aus, als hätte er genau das getan.«
      »Das ist die einzige Erklärung«, pflichtete ihm Miranda bei. »Aber die Gegend hat etwas Unirdisches an sich. Etwas so Ruhiges und Friedliches, daß man meinen könnte, wir befänden uns auf einem anderen Planeten.«
    »Das geht ein bißchen zu weit«, sagte Tallow. »Das ist ja fast wie dein Einfall vom Märchenland.«
    »Ich habe das nicht wörtlich gemeint«, erklärte Miranda ungeduldig. »Ich meinte nur, daß es so wie in dem Märchenland aussieht, von dem man mir als kleinem Mädchen erzählt hat.« »Das dort scheint mit deinem Eindruck übereinzustimmen.« Tallow zeigte lächelnd nach vorn.
    Miranda erblickte ein gewaltiges Kuppelgebäude aus herrlichem Marmor, mit blauen Mosaiken verziert. Es stand auf einer Lichtung mit gelbem Gras, und der Marmor schimmerte in der Sonne. Miranda seufzte. »Wir müssen einfach noch träumen«, sagte sie. »Anders ist es nicht zu erklären.« Die beiden versuchten auf ihre Art, den Platz, an dem sie sich befanden, mit dem Verstand zu begreifen. Beide versuchten, ihn mit Dingen zu verbinden, die sie aus Erfahrung kannten. Das war aber im Grunde genommen unmöglich.
    Sie näherten sich dem Kuppelbau und sahen, daß er von großen Marmorsäulen getragen wurde, die auf einer Terrasse aus milchigem Jade standen. In der Mitte der Terrasse schwang sich eine Treppe aus blauem Stein in die Höhe und verschwand in einer

Weitere Kostenlose Bücher