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Die goldene Barke

Die goldene Barke

Titel: Die goldene Barke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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hin?« fragte er sich selbst.
    Miranda wußte, daß er die Frage nicht ihr gestellt hatte, aber sie antwortete dennoch: »Er führt zum Meer, und die Seelen von uns allen sind nur kleine Tropfen, die aus dem Meer kommen.«
    Er hörte ihr nicht zu, wollte nicht auf sie hören. Er verschloß sich vor ihr, und sie wußte, es war sinnlos weiterzumachen. Sie blieben still, bis einige Stunden später Wachen kamen und sie holten. Sie hatten noch keine Anzeichen der Revolution bemerkt, und Miranda war sich plötzlich bewußt, daß der Aufstand vielleicht schon fehlgeschlagen war. Bis zu diesem

    Augenblick hatte sie überhaupt nicht an ein Scheitern gedacht.

    Schließlich empfand Tallow keinen Schmerz mehr. Natchos Folterknechte gingen nicht sehr feinfühlig vor. Sie vertrauten der Peitsche und der Streckbank und der Anwesenheit der schreienden Miranda. Sie wußten aus Erfahrung, daß man einem Mann die Zunge leicht lösen konnte, wenn man seine Frau vor ihm folterte. Sie kannten Tallow nicht.
    Miranda war gepeitscht und ihr Körper war gestreckt worden, bis sie ein blindes Tier geworden war, ein rasendes Etwas, das nach Erlösung von der Pein heulte, die man ihr zufügte, und Tallow saß bewegungslos dabei und sah zu. Seine Augen waren voller Unruhe, aber gefühllos, was ihre Angst betraf. Wenn er schon seinen eigenen Schmerz kaum verstand, wie sollte er da den eines anderen begreifen? Selbst als man sich ihn vorgenommen hatte, Peitsche, Frage, Peitsche, Frage, hatte er den Schmerz eher dunkel gefühlt, begriff er nicht ganz, warum er ihn erleiden mußte. Nur das hatte ihn abgehalten, die Fragen zu beantworten. Er war nicht aus Mut stumm geblieben; er hatte die Fragen nicht gehört. Die kühle Stimme des Sekretärs war verschmolzen mit der Peitsche, war nur ein Teil von ihr, wie das Zischen, das vor dem Schlag kam.
    Sein Rücken war rohes Fleisch, und seine Knochen taten furchtbar weh. Sein Körper zitterte, und er stöhnte in seiner Qual. Bald keuchte er bei jeder Bewegung, wenn die Peitsche niedersauste, und er keuchte, weil er wußte, daß sein Körper schmerzte, obwohl er den Schmerz nicht mehr wahrnahm. Schließlich wurden beide – Tallow und Miranda – ohnmächtig, und der Sekretär sagte voller Überdruß: »Schafft sie in ihre Zelle zurück. Ich wußte nicht, daß Menschen so zäh sein können. Sie könnten genausogut Tiere sein, unfähig, mit uns zu reden. Sie tun nichts als um Gnade winseln, und sagen uns nichts von dem, was sie wissen. Sie sind mir ein Rätsel.« Er gab den Wachen angewidert ein Zeichen und verließ die Folterkammer. Dann tauchte er plötzlich noch einmal auf. »Wenn ich es mir recht überlege«, sagte er, »lassen wir sie frei. Und wir lassen sie von unserem besten Spürhund beschatten. Vielleicht führen sie uns in einen der Schlupfwinkel ihrer Genossen. Je mehr uns ins Netz geraten, desto größer ist unsere Chance, etwas über ihre Pläne zu erfahren.«
    Eine Wache mit dem Gesicht eines Elchs nickte und zog Tallow hoch. Tallow und Miranda waren nackt und blutüberströmt. Ihr Blut vermischte sich, und ihr Atem ging flach. Der Elch brummte einen Befehl, und ein zweiter Soldat zerrte Miranda vom blutbespritzten Boden hoch und legte sie sich über die Schulter. Die beiden verließen den Raum durch eine Tür, die hinunter in einen dunklen, unbeleuchteten Tunnel führte. Sie stapften zwei Meilen weit durch diesen Tunnel, bis sie schließlich auf eine weitere Tür stießen, die auf einen Teil des Waldes hinausging, der vor der westlichen Stadtmauer lag. Das Waldstück war eingezäunt. Es war ein Gräberfeld. Man hatte Gräber ausgehoben und mit ungelöschtem Kalk gefüllt. In den Gräbern lagen ein paar verwesende Leichen. Die Wachen gingen an ihnen vorbei und schlossen eine kleine Tür im Zaun auf. Sie schleppten den Mann und die Frau ein Stück in den Wald hinein und ließen sie zu Boden fallen. Dann kehrten sie zurück und wischten sich gelassen das Blut von ihren Uniformen.
    Miranda kam als erste im grauen Zwielicht zu sich und setzte sich unter Schmerzen auf. Tallow lag in der Nähe. Er war noch bewußtlos. Miranda kroch langsam auf ihn zu, und jede Bewegung sandte neue Wellen des Schmerzes durch ihren schrecklich zugerichteten Körper.
    Die Bäume des Waldes in ihrer Nähe und über ihr schienen vor Wahrnehmungsfähigkeit, vor feindseliger Lebenskraft zu strotzen. Es waren die ältesten, größten Bäume, die sie je gesehen hatte, und ihre Stämme ragten zum Himmel empor und entzogen sich

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