Die goldene Barke
sein. Was weiß ich, es können auch schon mehr sein. Andere sind noch länger hier.« »Haben Sie nicht daran gedacht, es darauf ankommen zu lassen? Haben Sie sich nicht für eine Gabelung entschieden?« »Entschieden?« Das Gegacker wurde höher und erstarb wie ein Windhauch. »Entschieden? Ich versuche seit dreißig Jah ren, mich zu entscheiden. Welche Gabelung, welche Gabelung, welche Gabelung? Sie wissen, was es bedeutet, die falsche zu wählen? Ich werde die Barke auf ewig verfehlen.«
»Wieso? Könnten Sie nicht zurückkommen und es mit der anderen Gabelung versuchen?«
»Hätte ich die Zeit? Ist je einer von denen, die gefahren sind, zurückgekehrt?«
»Sie hätten Zeit gehabt, wenn Sie nicht dreißig Jahre gewartet hätten. Weshalb haben Sie so lange gewartet? Die anderen haben die Barke vielleicht gefunden.«
»Ich habe in der Hoffnung gewartet, die Barke noch einmal zu sehen und dann zu wissen, welche Gabelung sie befuhr. Wenn ich nicht zu betrunken bin, verbringe ich die meisten Nächte unten am Ufer. Ich trinke eine Menge und weiß nicht, warum. Ich werde sie sehen, wenn sie kommt. Die ist ganz schön schwer zu fassen. Ich dachte, ich wäre meilenweit hinter ihr und legte dann in einem Hafen an und sah sie an mir vorbeifahren. Ich habe sie Tage und Wochen nicht gesehen und fand sie wieder, als sei sie nur eine Stunde weit vor mir gewesen. Werden Sie schlau daraus? Ich bin aufgehalten und festgesetzt worden, aber ich bin weiter, manchmal mit Blut an den Händen. Aber ich habe immer die Barke gesehen, dicht vor mir, dicht vor mir, doch nie nah genug, um an Bord gehen und ihr ihre Geheimnisse entreißen zu können. Weshalb sind Sie hinter ihr her, mein Junge? Sie ist hier nicht vorbeigekommen, es sei denn, gestern nacht oder vor zwei Wochen.« Roothen ging nicht auf den zweiten Teil von Tallows Frage ein. Er wußte keine Antwort.
»Sie ist gestern abend vorbeigekommen, Roothen. Ich weiß
es, weil ich ihr bis hierher gefolgt bin und sie wieder aus den
Augen verloren habe.«
»Nein!«
»Doch«, sagte Tallow fast höhnisch. Er hatte nichts als Verachtung für den alten Mann.
»Ach, Sie belügen mich. Sie quälen mich. Sie lügen. Geben Sie zu, daß Sie lügen, junger Mann.« Der alte Mann schluchzte erbärmlich, und Tallow hörte, wie er einen großen Schluck von einer Flüssigkeit nahm. »Sie lügen doch, oder?« Seine Stimme klang besorgt. »Nein«, sagte Tallow, »ich lüge nicht.«
Wieder hörte Tallow von Roothen nichts als das Schluckgeräusch und das erbärmliche Winseln.
»Sie haben es nicht besser verdient«, sagte er. »Sie haben es wirklich nicht besser verdient. Sie sind Ihre Träume oder Ihre Erinnerungen nicht wert. Sie sind ein Feigling, ein Narr. Sie sind so schlimm wie die anderen. Sie leiden nur an einem anderen Wahn.« »Sagen Sie das nicht.« »Es ist wahr.«
»Nein, das ist es nicht. Ich weiß es. Es ist immer noch Zeit. Ich bin nicht so alt.«
»Sind Sie überhaupt noch fähig, ein Boot zu steuern?«
»Natürlich!«
»Sind Sie das?«
»Ja, ja! Natürlich bin ich das. Nehmen Sie mich mit, mein Junge, und ich werde es Ihnen zeigen. Wir werden es riskieren. Wir werden es zusammen riskieren. Wir sind Kameraden, mein Junge. Wir wissen etwas, das die anderen nicht wissen.« »Wir wissen nichts. Wir ahnen nur etwas.«
»Ja, aber wir werden bald Bescheid wissen, oder?« Der alte Mann bewegte sich taumelnd auf Tallow zu. Er packte ihn an der Kleidung und blies ihm stinkenden Alkoholdunst ins Gesicht. »Nehmen Sie mich mit, mein Junge.« Er bettelte, winselte, und Tallow war angewidert.
»Weshalb? Verdienen Sie diese Gelegenheit? Ich bin stark genug weiterzuziehen, mein Freund. Ich werde die Barke finden, und vielleicht komme ich dann zurück und erzähle Ihnen, was es mit ihr für eine Bewandtnis hat. Soll ich das
machen?«
Tallows Worte versetzten den alten Mann nicht in Wut. Er bat demütig weiter, mitgenommen zu werden, aber Tallow schüttelte die gebrechlichen Hände ab.
»Ich habe eine Menge verloren, alter Roothen. Ich habe mehr als die meisten Menschen verloren, ich habe meine Kraft verloren. Ich bin schwach, Roothen, aber nicht so schwach, daß ich nicht weiterziehen kann, um zu finden, was ich suche.« »Was suchen Sie denn?«
»Das werde ich wissen, wenn ich die Barke erreiche. Wohin die Barke mich führt, ich werde ihr folgen, bis ich jedes Geheimnis kenne, das mich je beunruhigt hat. Ich werde die Antwort auf jede Frage wissen, die mich je gequält hat.« Während
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