Die goldene Barke
auch geschehe, es ist vorbei! Ich bin dir ausgeliefert, dir und dem Fluß und dem Schicksal, das mich am Ende des Flusses erwartet!
Zu spät für meine Mutter, Miranda und Mesmers ! Zu spät für die Macht, die ich hätte haben können, für den Reichtum, die Frau, das Wissen! Zu spät für den Seelenfrieden! Jetzt habe ich sie! Ich habe meine Einsamkeit, meine Verlassenheit!« Er blickt auf den Fluß hinab, der trüb sein Gesicht widerspiegelt. Er sieht entsetzt einen älteren Mann. Zu alt! Er sieht Runzeln im Gesicht, die erst später hätten kommen dürfen. Schmerz in den Augen, wo vor einem Jahr kein Schmerz war, nur nacktes Unverständnis.
Tallow ist ein Mann, der den Wahnsinn durch Mauern bekämpft. Er klammert sich an die letzten Spuren scheinbarer Gesundheit, wehrt jeden Gedanken, jeden Begriff ab, der seine schreckliche Täuschung zertrümmern könnte. Er versucht verzweifelt, sich von irgend etwas zu überzeugen, aber er findet keine Überzeugung, die ihm gefällt. Er weist jetzt jeden Gedanken zurück, der ihm kommt. Er schreit gegen das Tosen des Wassers an. Er brüllt Sätze und Schlagworte und schleudert sie der unerschütterlichen Stille entgegen.
»Frei – ich bin frei. Endlich frei, die Barke zu verfolgen. Ich habe auf meiner Reise viel gewonnen, und jetzt wird meine Sehnsucht erfüllt werden. Ich werde mich nicht mehr sehnen, da ich für alles gezahlt habe. Keine Rechnung ist mehr offen. Ich habe nichts mehr. Ich bin frei.«
Das Boot wirbelt herum und dreht sich und schießt den Fluß hinab aufs Meer zu. Tallow lacht in schrecklich falscher Freude. Er wirft den Bootshaken fort und läßt das Ruder los. Er steht im schaukelnden Boot auf, streckt die Arme weit aus, blickt umher und in die Höhe und ruft, ruft. Ruft, bis der Schrei einen Ton erreicht, zu einem Singsang wird, der bald jegliche Bedeutung verliert, weil die Worte in den Gefühlen untergehen, die in Tallow aufsteigen.
Und jetzt blickt er plötzlich nach vorn. Er legt den Kopf nach alter Art auf die Seite und späht angestrengt voraus. Seine Augen weiten sich langsam. Sie weiten sich, und die Lippen öffnen sich. Er taumelt zum Schiffsbug, aber der Fluß wirbelt ihn herum. Er bewegt sich sprunghaft und versucht das im Auge zu behalten, was er gesehen hat. Es ist die Barke, die goldene Barke, größer als je zuvor. Er hat das Gefühl, sie beinahe berühren zu können. Er streckt die Arme wie ein grimassierender Clown nach ihr aus, aber das Boot dreht sich wieder.
Verzweifelt versucht er, sie im Auge zu behalten, und mit
einem Teil seines Verstandes bedauert er die Regung, die ihn
den Bootshaken fortwerfen ließ.
Verzweifelt schreit und fleht er.
»Rette mich, rette mich! Du hast mich zu dem gemacht, was ich bin! Rette mich, erbarme dich! Ich bin hier!«
Die Barke empfindet etwas. Tallow weiß es. Sie ist lebendig und braucht keine Besatzung. Wie kann die Barke ihm helfen? Er begreift, daß sie keine Arme hat, um ihn an Bord zu ziehen, keine Hände, die sich ausstrecken können, um ihn zu retten.
Wie kann sie ihm helfen? Tallow weiß, daß er nie an Bord gelangen wird.
»Hilf mir! Du hast mich in Leid und in den Wahnsinn geführt, du hast mich zum Mörder gemacht! Für dich habe ich mir sogar selbst das Leben genommen! Ich habe jedes Opfer gebracht! Ich habe Blutopfer gebracht, das Opfer des Elends und des Schreckens! Welche dunklen Schrecken muß ich noch erleben, bis du mich zu dir nimmst? Nimm mich jetzt! Ich habe den Preis bezahlt!«
Tallow ist sich klar, daß kein Preis zu entrichten war. Daß seine Suche sinnlos war, es sei denn, er folgt der Barke bis ans Ende. Er muß ihr weiter folgen. Er muß. Es ist noch zu früh. Es ist kein Preis gefordert worden, sondern beharrliches Festhalten am Ziel. Die Barke zieht immer noch unerschütterlich weiter, unberührt vom Wasser, das spöttisch mit Tallows Boot spielt. Sein Boot wird von einem Miniaturstrudel festgehalten, der es herumwirbelt, während die Barke auf Kurs bleibt, weder Geschwindigkeit noch Richtung ändert.
Tallow fährt unwillkürlich fort, nach ihr zu rufen, und erinnert sich gegen seinen Willen an Mirandas Schreie, als er sie über Bord in den Fluß geworden hatte.
Er wird jedoch von einer Hochstimmung erfaßt, und er reißt am Ruder und steuert das Boot aus dem Zugriff des Strudels heraus, kämpft gegen die Strömungen an und segelt rasch im Kielwasser der goldenen Barke dahin. Sie schimmert aufreizend und ist anscheinend allwissend. Ist sie Gott? fragt sich
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