Die goldene Göttin
man mich sieht…«, fing sie an.
»Dann laß die alte Norni hier zurück«, erwiderte er. »Ich würde mich viel lieber mit der jungen Norni in der Stadt zeigen. Oder gebrauchst du einen anderen Namen, wenn du nicht als altes Weib verkleidet gehst?«
Sie erhob sich auf einen Ellenbogen und starrte ihn in sprachloser Bestürzung an. Sie öffnete ihren Mund zum Protest, dann überlegte sie es sich anders, beobachtete ihn und versuchte hinter die Maske seines freundlich-spöttischen Lächelns zu sehen. »Wie lange hast du es gewußt, Herr?« fragte sie.
Fortune lachte. »Für eine gebrechliche alte Frau kamst du mir von Anfang an zu lebendig vor. Als du mir dann die Geschichte von Oranas und Saegeas und den Intrigen zwischen Gibelnusnu und Katakan und den ganzen Rest erzähltest, dachte ich mir, daß du entweder lügst oder eine andere Person bist als die, für die du dich ausgibst. Warum? Weil eine wahre Tochter des Nodiesop, die unter Fischern und Lastträgern aufgewachsen ist, nicht die Hälfte von den Dingen zu sehen bekäme, die du gesehen haben willst. Darum, so überlegte ich, mußt du eine andere Person sein – vielleicht nicht nur eine. Auf jeden Fall ist die alte Norni nur eine deiner Verkleidungen.«
Als Norni ihn sprachlos anstarrte, fügte Fortune hinzu: »Ich bin neugierig, wie du wirklich aussiehst.«
»Bitte, Herr«, bat sie schwächlich und zog den Umhang fester um sich. »Nicht heute abend. Ich bin wahrhaft sterbensmüde.«
Fortune lachte. »Schlaf gut«, wiederholte er. »Wer immer du bist.«
4
Eine kleine scharfe Explosion wie der Knall einer Kleinkaliberpistole riß Hannibal Fortune aus dem Schlaf. Bevor seine vom Schlaf benommenen Muskeln dem Abwehrreflex gehorchen konnten, beruhigte ihn Webleys Stimme.
»Bleib liegen – ein grüner Zweig ist im Feuer geplatzt. Keine Gefahr.«
»Zweig? Wieso …?«
»Die Frau ist aufgestanden, hinausgegangen und mit Feuerholz zurückgekehrt. Als sie das Feuer wieder in Gang gebracht hatte, zog sie ihre Lumpen aus. Darunter trug sie eine Art Beutel auf dem Bauch, den sie mit mehreren Lederriemen befestigt hatte. In diesem Beutel waren Kleider, mehrere kosmetische Sachen, ein Kamm und ein sehr guter Bronzespiegel. Ich hatte Gelegenheit, sie beim Umziehen zu beobachten, und aufgrund meiner langen Erfahrung mit dir weiß ich, daß du sie entweder in die Kategorie ›Unterhaltend‹ oder ›Herausfordernd‹ einordnen würdest.«
»Webley«, wisperte Fortune, »du kannst dir nicht vorstellen, wie dankbar ich dir bin, daß du diese Beobachtungen für mich gemacht hast, statt mich zu wecken, damit ich sie selbst mache und darüber wertvollen Schlaf verliere.«
»Deine Dankbarkeit ist rührend, aber unangebracht, soweit sie den gewonnenen Schlaf betrifft. Das Ereignis, über das du dich so erregst, fand erst vor zehn Minuten statt. Hätte ich gewußt, daß du interessiert bist…«
Fortune setzte sich auf und starrte zum Feuer. Davor kauerte die alte Norni, ihm den Rücken zukehrend, ganz in seinen wollenen Umhang gehüllt. Oder die neue Norni. Von draußen leuchtete blauer Morgenhimmel herein.
»Steh auf, Mädchen«, sagte Fortune, »und laß dich ansehen.«
Sie stand schnell auf und drehte sich um. »Ich wußte nicht, daß du wach bist, Herr«, sagte sie.
»Ich mache Fortschritte in der Richtung«, sagte er gähnend, und dann blieb sein Mund offen, so drastisch hatte sich ihre Erscheinung verändert. Ihr Gesicht hatte das Alter abgestreift und eine jugendliche Frische angenommen. Und ihre Gestalt verdrängte jede Erinnerung an die Verrückte von Manukronis. Sie sah wie eine Zwanzigjährige aus. Sie trug einen Rock aus grobgewebtem Wollstoff, dessen Saum mit den Gehäusen kleiner Meeresschnecken besetzt war und über ihre Knie reichte. Von ihrem Hals hing eine Unmenge von Schmuckketten aus Kupfer, Korallen und Muschelschalen und bedeckte den sonst freien Oberkörper. Sie war von makellosem Wuchs.
Er war verblüfft über ihre Ähnlichkeit mit jemandem, den er schon einmal gesehen hatte. Wenn sie ihrem Vater nachgeschlagen war, konnte die Ähnlichkeit ein Hinweis auf Kronos’ Identität sein, denn Fortune war bereits zu der Schlußfolgerung gelangt, daß sie zum Mischlingsnachwuchs des Zeiteindringlings gehörte. Er durchsuchte sein Gedächtnis nach den Gesichtern bekannter Imperiumsagenten, doch ohne Ergebnis.
»Warum siehst du mich so an, Herr?« fragte sie.
»Schönheit muß bewundert werden«, erwiderte er.
»Du bist freundlich, Herr«,
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