Die goldene Göttin
nichts, was ich von dir noch will. Früher einmal, als wir beide sehr jung waren, bildete ich es mir ein. Aber wir sind jetzt älter.«
Sie zuckte mit keiner Wimper, aber ihre Worte bewiesen, daß er sie verletzt hatte. »Ja, du wirst alt, R’cagn. Ich vergesse das manchmal.«
R’cagn hob die Schultern. »Eines Tages …« Er ließ die Andeutung in der Luft hängen und fuhr dann fort: »Wie auch immer, wenn du den Barbaren bloß ansehen willst, könnte ich es vielleicht einrichten.«
*
Die Wachen vor der Frauenabteilung des Kerkers standen hastig auf und ergriffen ihre an der Wand lehnenden Lanzen, um sie zu präsentieren, als sie Fortunes Helmbusch erblickten. Aber der Rest seiner Uniform schien sie mißtrauisch zu machen. Bevor sie die richtige Schlußfolgerung ziehen konnten, informierte er sie, es handele sich bei der Rüstung um eine neue Anfertigung, die probeweise an das Offizierskorps ausgegeben werde, und wenn sie sich bewähre, würden alle Wächter in Kürze mit einem ähnlichen Modell ausgestattet. Er ließ sie den Brustharnisch bewundern, lobte ihre Tapferkeit und Ausdauer, mit der sie im Gestank des Kerkers ausharrten, und sagte ihnen schließlich, daß er gekommen sei, um das Mädchen des Barbaren zum Verhör in den Palast zu bringen.
Die Wächter waren erstaunt. Kaum eine Stunde sei vergangen, sagten sie, seit sie das Mädchen zum Tempel überführt hätten. Mitglieder der Schwesternschaft hätten sie nach der Personenbeschreibung als Novizin identifiziert, die sich vor längerer Zeit unerlaubt ihren Pflichten entzogen hatte.
»Weiß R’cagn davon?« fragte Fortune geistesgegenwärtig.
»Es wurde ihm gemeldet, Herr.«
Er bedankte sich und stolzierte davon, äußerlich selbstsicher und unbekümmert, in Wahrheit jedoch nachdenklich und besorgt. Was wollte der Tempel von einem Tanzmädchen? Er war weit davon entfernt, eine Hohepriesterin wie Ylni zu unterschätzen. Seit beinahe zwanzig Jahren hatte Norni in verschiedenen Verkleidungen gegen Yolarabas agitiert. Wenn Ylni sie durchschaut hatte, war keine Zeit zu verlieren.
Seiner Nase folgend, machte er die Stallungen aus, ließ sich Nibormoros Pferd geben und galoppierte zum Tempelbezirk.
*
Nachdem die anderen alle gegangen waren, mußte Webley erkennen, daß Llandro nicht daran dachte, Nodiesops wunderbaren Kopf allein zu lassen. Webley wartete eine Viertelstunde, aber Llandro blieb am anderen Ende des Tisches sitzen und rührte sich nicht von der Stelle. Da er keinen Sinn darin sah, den Rest des Tages in der Gesellschaft des Meisterdiebs zu verbringen, schloß Webley die Muschelschalen und ließ sie zusammenschrumpfen, während sein Protoplasma durch eine Bretterritze im Tisch floß und sich flach auf der Unterseite ausbreitete. Llandro verstand den Wink und ging.
Der Symbiont kroch an einer Stütze zum Dach empor, zog sich durch das Loch ins Freie und flatterte in der Gestalt eines Vogels davon. Sein erster Gedanke war, Fortune zu informieren, was er zu seiner Rettung unternommen hatte, aber weil bis Sonnenuntergang noch mehrere Stunden blieben, beschloß er das Vorhaben zu verschieben und statt dessen taktische Vorarbeit zu leisten. Er schwenkte ab, umkreiste zweimal den Palast, bis er das seiner Meinung nach richtige Fenster ausgemacht hatte, und landete auf einem Mauervorsprung in der Nähe. Dann streckte er einen langen, dünnen Fühler aus und ließ ihn an der Fassade herunter zum Fenster. An der Spitze des Fühlers wuchs ein kleines Auge und spähte vorsichtig in den Raum.
*
»Herr«, sagte der Wachhabende, und sein Pflichtgefühl überwand seine Bedenken, »niemand darf hinein, bis der Hauptmann sein Verhör beendet hat.«
»Wer hat das befohlen?« verlangte R’cagn zu wissen.
»Befehl vom Palast, Herr.«
»Dann widerrufe ich den Befehl. Öffne die Tür.«
»Jawohl, Herr.«
R’cagn betrat den Kerker zuerst und stieg die Steintreppe zum schummerigen Licht der Pechfackel hinunter. Die Luft war muffig und feucht. »Ich habe ihn selbst noch nicht gesehen«, sagte er mit einer halben Kopfdrehung zu seiner Begleiterin. »Ich vermute, daß die Geschichten über seine Größe und seine Kühnheit stark übertrieben sind.«
Der schmale Gang am Fuß der Treppe lag verlassen. R’cagn stapfte zur Zelle des Barbaren und entdeckte, daß die Türverriegelung zerstört und die Tür nur angelehnt war. Ein Blick auf den besinnungslos am Boden Liegenden zeigte ihm, daß der Mann nicht der rechtmäßige Insasse
Weitere Kostenlose Bücher