Die goldene Göttin
war.
»Das ist ja Hauptmann Nibormoro!« rief Ylni. Mit süßem Lächeln wandte sie sich an ihren Gastgeber. »Mein lieber R’cagn, wir sind quitt. Du hast mir auch nichts zu bieten.« Damit drehte sie um und ging zur Treppe zurück. Einen Moment lang blickte er ihr wütend nach, dann brüllte er nach der Wache.
*
Das Schachbrett mit der angefangenen Partie … die drei Wände voller Bücher, Hunderte von Titeln … der große Globus auf einem reichverzierten Gestell im Stil des späten achtzehnten Jahrhunderts … die ramponierte Schreibmaschine, flankiert von unordentlichen Manuskriptstapeln – diese Dinge allein boten Hinweise genug auf den Mann, der zwanzig Jahre damit verbracht hatte, seine Umwelt nach eigenem Gutdünken zu prägen. Die schlaksige Gestalt, die vor der Schreibmaschine hockte, beide Ellenbogen auf der Tastatur, die langen Finger in den Haaren vergraben, finster auf das Geschriebene starrend – sie war nur eine zusätzliche Bestätigung, deren es kaum bedurfte.
Die Hälfte des Vergnügens, hatte Fortune einmal gesagt, besteht darin, einen würdigen Gegenspieler zu finden.
Behutsam sandte der Symbiont eine telepathische Sonde aus, bereit, sie sofort wieder zurückzuziehen. Aber Kronos war allein. Ermutigt zapfte Webley die Gedankenströme des Königs an und lauschte.
Kronos’ Überlegungen kamen Webley so vertraut vor wie sein Gesicht. Auf einer Unterströmung von Dringlichkeit und dem Bewußtsein, eine Entscheidung treffen zu müssen, fand sich die kühle und etwas ironische Distanziertheit eines Mannes, der gewohnt ist, aus einem Wirrwarr von Daten und Angaben die richtigen Schlüsse zu ziehen. Während der Mann seinen eben geschriebenen Text überflog, gingen seine Gedanken schon in eine gänzlich andere Richtung:
Wenn dieser Barbar wirklich Hannibal Fortune ist, muß der Zeittransporter zu finden sein. Zerstören? … Ja. Der Symbiont muß auch dabei sein. Ausfindig machen. Fünfzehn Pfund, das sind … zwanzig Kubikzentimeter. Kann eine Menge Unheil anrichten. Vernichten. Fortune ist gerissen. Schwächen? Frauen: ›Ylni? Zwecklos, zu impulsiv‹ … Essen? Er ist Feinschmecker. Eitelkeit? Egoismus?
Schneller als Webley folgen konnte, überlegte und verwarf Kronos eine Anzahl von Methoden, um Fortunes Eitelkeit und Selbstgefälligkeit in eine Falle zu verwandeln. Als der Mann plötzlich aufstand, zog Webley seinen geistigen Fühler rasch zurück. Sekunden später stieß er sich von der Palastwand ab und schwang sich in den diesigen Himmel empor. Steil aufwärts. Vielleicht hatten die letzten zwanzig Jahre Kronos’ Zielsicherheit beeinträchtigt, aber Webley zog es vor, kein Risiko einzugehen. Ein fünfzehnpfündiger Vogel wäre ein zu verlockendes Ziel. Das Fenster ging nach Osten. Webley flog mehrere Minuten in westlicher Richtung, dann schlug er einen Bogen und näherte sich der Stadt von Norden, flog in unregelmäßigem Kurs tief über die Dächer dahin und erreichte so das Gefängnis.
Im Augenblick seiner Ankunft wußte er, daß Fortune nicht mehr dort war.
*
Fortune hatte mit Hilfe der Zerebralfeld-Bänder in der TERRA-Zentrale gelernt, wie der große sumerische Gott Schamasch in einem Wutanfall gegen seine Schwiegermutter die Erde erschaffen hatte; er hatte das Ritual der lebensbejahenden Baalsverehrung ebenso studiert wie den dem Tod zugewandten Kult der Aphrodite; er hatte sich in die Offenbarungslehre Zoroasters und in die dionysischen Mysterienkulte vertieft; er kannte die strengen Gesetze Jahves, des eifersüchtigen, zornigen Gottes der alten Semiten … Er hatte sich mit allen religiösen Bezügen gewappnet, die er möglicherweise brauchte, um die Bedeutung der goldenen Göttin Yolarabas für das Denken und Handeln ihrer Anhänger richtig einzuschätzen. Aber nichts von alledem hatte ihn auf ihren Anblick vorbereitet.
Yolarabas war im höchsten Grade schwanger.
Natürlich. Wie sonst hätte ein manukronischer Bildhauer die Mutter der Menschheit darstellen sollen? Die nackte Madonna war von doppelter Lebensgröße und saß auf einem etwas plumpen Thron an der Rückwand der Tempelhalle. Trotz der etwas übertriebenen Rundungen und der massigen Formen, die eine Verwandtschaft mit anderen prähistorischen Fruchtbarkeitsidolen vermuten ließen, hatte der namenlose Künstler ein bemerkenswertes Werk geschaffen. Das vergoldete Gesicht verband Schönheit mit Kraft und Intelligenz, zugleich aber wurde der Ausdruck von jenem mysteriösen Lächeln beherrscht,
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