Die goldene Meile
klang wie ein Donnerschlag. Die Frau fuhr herum und wandte sich ihm und dann Arkadi zu. Sie nahm die dunkle Brille ab, um besser zu sehen, und ihre trockenen Augen waren so nackt wie sonst nichts in dem Raum. Dann rauschte sie mit Volldampf davon, und der Direktor folgte ihr dicht auf den Fersen.
»Entschuldige«, sagte Arkadi. »Jetzt habe ich dich leider in eine Klemme gebracht.«
»Zum Teufel damit. Ich hasse es, auf einem Sofa zu schlafen. « Willi war überraschend gut gelaunt.
»Und außer deinen Herzproblemen hast du jetzt auch noch eine Erkältung?«
»Nein. Etwas hat mich in der Nase gekitzelt. Etwas, das diese Atmosphäre aus Verwesung und Formaldehyd durchdrungen hat. Eine geübte Nase ist wichtig. Jeder Schuljunge sollte den Knoblauchgeruch von Arsen und den Mandelgeruch von Zyankali erkennen. Gib mir die Lunge. Mal sehen, was deine Freundin zuletzt eingeatmet hat.«
Arkadi hob das Herz des Mädchens mit den daranhängenden Lungenflügeln aus dem Eimer auf ein Tablett. Ein faustgroßer Muskel zwischen zwei schwammigen Lappen.
Er roch nichts als den üblichen Gestank, bis Willi einen Lungenflügel durchbohrte und einen Hauch wie von Benzin freisetzte.
»Äther.«
»Äther, genau.« Willi nickte. »Es dauert eine Weile, bis er verflogen ist, weil sie nicht mehr geatmet hat. Also ist es in zwei Phasen passiert: Mit Clonidin ist sie außer Gefecht gesetzt, mit Äther anästhesiert und getötet worden. Alles kampflos. Gratuliere. Du hast einen Mordfall.«
Arkadis Handy zirpte zweimal, und als er sich von der Gummischürze befreit und das Telefon aus der Tasche gewühlt hatte, war ihm ein Anruf von Schenja entgangen - das erste Mal seit einer Woche, dass der Junge sich gemeldet hatte. Arkadi rief sofort zurück, doch Schenja nahm den Anruf nicht an: eine treffende Illustration ihrer Beziehung, fand Arkadi.
Aber vielleicht hatte Schenja auch nur aus einem beiläufigen und unwichtigen Grund angerufen.
SIEBEN
Maja saß vor dem Schminkspiegel in der Damentoilette des Kasinos, und Schenja rasierte ihr den Kopf. Sie hatte sich die orangeroten Haare mit einer Büroschere abgeschnitten, aber manche Stellen konnte sie nicht sehen oder mit dem Rasierapparat nicht erreichen, und obwohl ihr die erzwungene Intimität dieser Situation gegen den Strich ging, senkte sie den Kopf und ließ sich von einem Jungen mit einem Rasiermesser aus der Garderobe der Croupiers über den Schädel fahren. Das Abschneiden der Haare war seine Idee gewesen: Ihr rotes Haar sei praktisch ein Fanal an die Miliz. Jetzt sah sie aus wie ein gerupftes Huhn. Wenn das keine Verbesserung war!
»Hast du schon mal jemandem den Schädel rasiert?« »Nein.«
»Hast du dich selbst schon mal rasiert?« »Nein.«
»Dachte ich mir.«
Sie hatten kaum geschlafen, denn sie wollte im Jaroslawler Bahnhof sein, wenn der Sechs-Uhr-dreißig-Zug einfuhr, der Zug, mit dem sie gekommen war. Sie hoffte, dass dieselbe Besatzung an Bord sein würde. Tante Lena hatte behauptet, sie fahre so regelmäßig mit diesem Zug, dass alle auf der Strecke sie kannten. Vielleicht würde sie jemanden finden.
Der Spiegel verdoppelte ihr Elend. Sie stellte sich die Frauen vor, die sich normalerweise in diesem goldenen Rahmen betrachteten: hochgewachsen und weltgewandt, mit einem Glas Champagner in der Hand, während sie spielten, entspannt lachend, ob sie nun gewonnen oder verloren hatten. Warum auch nicht? Deren Chancen beim Roulette waren größer als ihre, das Baby wiederzufinden.
»Warum ist hier niemand?«, fragte sie.
»Das >Peter der Große< ist seit Wochen geschlossen. Viele andere Kasinos auch.«
»Warum?«
»Arkadi sagt, Moskau möchte ein würdevolles Bild abgeben, genau wie die anderen Hauptstädte der Welt. Er sagt, jemandem im Kreml ist aufgefallen, dass vor dem Weißen Haus oder dem Buckingham-Palast auch keine Spielautomaten stehen.«
Warum, dachte sie, stahl jemand ein Baby? Was machte man mit Babys? Und wie hatte sie einschlafen und zulassen können, dass man ihr Baby entführte? Sie wollte sich diese Fragen nicht stellen, die ihr alle zehn Sekunden ungebeten in den Sinn kamen. Das erinnerte sie daran, wie ihre Brüste schmerzten. Sie würde sich melken müssen wie eine Kuh, bevor sie zum Bahnhof ging. Inzwischen war sie entschlossen, Schenja zurückzulassen. Er meinte es gut, aber es war, als sitze ein Eichhörnchen auf ihrer Schulter, und auch wenn es irrational war, ihm daraus einen Vorwurf zu machen, war der Anblick ihrer Haare, die da in den
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