Die goldene Meile
Fingernägeln stocherte und jede Körperöffnung betupfte und im Licht einer UV-Lampe studierte. Für Arkadi sah es aus, als begrabsche Quasimodo eine schlafende Venus.
Als die äußerliche Untersuchung abgeschlossen war, machten die beiden eine Zigarettenpause. Fumo ergo sum, dachte Arkadi.
»Kein Hämatom, keine Schramme«, sagte Willi. »Du weißt, dass wir nicht schneiden dürfen, wenn es keine Anzeichen für Gewaltanwendung oder außergewöhnliche Umstände gibt.«
»Ist es nicht außergewöhnlich, wenn eine junge Frau halb nackt und tot aufgefunden wird?«
»Nicht, wenn sie eine Prostituierte ist.«
»Und das Clonidin?«
»Ja, an diesem Punkt bricht deine Theorie auseinander. Clonidin ist eine gute K.-o.-Pille, aber als Gift ist es eine Schweinerei. Kurz gesagt, man übergibt sich und erstickt an der eigenen Kotze. Ich habe ihre Luftröhre untersucht. Sie ist sauber. Du brauchst nur ihr Gesicht anzusehen: Sie ist nicht nach Atem ringend gestorben, sie hat einfach die Augen zugemacht und war tot.«
Man stirbt nicht einfach, dachte Arkadi. Man kann von einer Kugel getötet werden, von einem Aussetzer im Herzschlag oder von einer Ranke, die dich am Tag deiner Geburt umschlingt. Aber niemand stirbt einfach.
Willi lief sich allmählich warm. »Wie man es auch betrachtet, am Ende ist die Todesursache immer der Sauerstoff beziehungsweise seine Abwesenheit, manchmal herbeigeführt mit einer Axt, manchmal mit einem Kissen, aber fast immer unter Hinterlassung von Spuren. Erwürgen mit den Händen zum Beispiel, das ist so persönlich, so ungeheuerlich. So viel Wut, so viel Verletzung, und nicht nur am Hals. Ich meine damit, Mord ist Mord, aber das Erwürgen mit den bloßen Händen bringt das Schlimmste im Menschen zum Vorschein.«
»Hat sie ihr Höschen vor oder nach dem Tod ausgezogen? Was glaubst du?«
»Noch mal das Höschen?« »Viktor ist es auch aufgefallen.«
»Als ich Leutnant Orlow das letzte Mal gesehen habe, schlief er am helllichten Tag auf einer Bank am Boulevardring. «
»Heute Nacht ist er trocken.«
»Dann sitzt er morgen wieder in der Scheiße und zieht dich mit hinein. Als ob du dazu Hilfe brauchtest.« »Wie meinst du das?«
»Sag mir, seit wann deckt ein leitender Ermittler einen Milizbeamten? Warum? Weil keiner mit ihm arbeiten will. Weiß Staatsanwalt Surin, was du hier treibst?«
»Es ist Viktors Fall. Ich laufe nur nebenher.«
»Wenn Surin das erfährt, bist du so gut wie gefeuert. Na ja, du kannst immer noch mein Assistent werden.«
»Und was muss ich dann tun?«
»Falls ich umkippe und jemand versucht, mir zu helfen, musst du ihn erschießen.«
Willi fing an Veras linker Schulter an und zog das Skalpell unter der Brust hindurch und zum Brustbein herauf. Er schlurfte um den Tisch herum und machte den gleichen Schnitt von der rechten Schulter aus, und in einem meisterhaften Streich schlitzte er sie vom Brustbein abwärts bis zu der Tätowierung auf.
Ihr Kopf war zu Seite gewandt, und sie war taub für das Geklapper des Stahls auf dem Instrumententablett: Messer und Skalpelle von verschiedener Länge, Zange, UV-Lampe und Kreissäge. Willi klappte das weiche Gewebe über der Brust auseinander und wählte eine Gartenschere mit gebogenen Klingen.
»Vielleicht sollte ich das übernehmen«, sagte Arkadi.
»Wenn ich möchte, dass ein Amateur in meine Arbeit hineinpfuscht, sage ich dir Bescheid.«
Arkadi nahm diese Antwort als ein Nein und wandte sich der Karteikarte zu.
Geschlecht: weiblich
Name: unbekannt
Wohnsitz: unbekannt
Alter: etwa 18-22
Größe: 162. cm
Gewicht: 49 kg
Haarfarbe: braun
Augen: blau
Mutmaßlicher Todeszeitpunkt: aufgrund von Kerntemperatur und einsetzendem Rigor etwa zwei bis drei Stunden vor Einlieferung
Ihre Rippen krachten wie grünes Holz. Arkadi las weiter.
Bemerkungen: Die Verstorbene wurde um 02.16 Uhr eingeliefert, bekleidet mit einer blauen Synthetikjacke und einem weißen Baumwoll-Bustier. Zwei Plastiktüten wurden mitgebracht. Tüte A enthielt Gegenstände vom Fundort: einen blauen Jeansrock mit verschlissener Zierbestickung und kniehohe rote Stiefel aus Kunstleder. Keine Unterhose, kein ВН . Tüte В enthielt persönliche Gegenstände, unter anderem Kosmetika, Pfefferspray, ein Pessar, eine Intimdusche und ein Aspirin-Röhrchen mit einem gelben Pulver, das in der vorläufigen toxikologischen Analyse als Clonidin identifiziert wurde, ein Blutdruckmedikament, das gelegentlich als »K.-o.-Pille« missbraucht wird. Körper,
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